Die internationale Pharmabranche steht vor erheblichen Herausforderungen. Die stetig steigende Lebenserwartung sowie die damit verbundenen wachsenden Fallzahlen chronischer und kostenintensiver Erkrankungen erfordern ein ebenso innovatives wie effizientes Gesundheitssystem. Auf der anderen Seite engen steigende Produktionskosten, komplexer werdende Lieferketten und der Fachkräftemangel den Handlungsspielraum der Akteure ein.
Neben seinem primären Fachgebiet „Medical Affairs“ und seiner Aufgabe als Professor für Medizin-Management an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft hat Prof. Dr. Dr. Michael Wiechmann auch entsprechende Erfahrungen und Expertise im Bereich strategische Unternehmensführung und Gesundheitsmanagement: Im Interview wirft er einen Blick auf die zukünftigen Möglichkeiten der digitalisierten Wertschöpfungskette, das Konzept „Value Beyond Pill“ sowie auf Fragen der Ethik und Finanzierbarkeit angesichts von Kostenexplosionen in der Medikamentenentwicklung. Zudem unterstreicht er die zentrale Bedeutung einer modernen Teamführung und Arbeitskultur für die Pharmaindustrie.
Herr Prof. Dr. Dr. Michael Wiechmann, mit welchen Herausforderungen sehen sich Pharmaunternehmen heute und in Zukunft konfrontiert?
Die pharmazeutische Industrie wird sich erheblichen zukünftigen Herausforderungen stellen müssen. Hier ist vor allem der demografische Wandel zu berücksichtigen. Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2030 circa 16 Prozent der globalen Bevölkerung über 60 Jahre alt sein werden. Mehr als 30 Prozent der Erwachsenen werden zugleich mit mindestens einer chronischen Erkrankung leben und entsprechend behandelt werden müssen.
Hohe Inzidenzen und Prävalenzen sind vor allem in den Bereichen Onkologie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erwarten. Obwohl vor allem biotechnologisch hergestellte Medikamente die Behandlung verschiedener chronischer und lebensbedrohlicher Erkrankungen revolutioniert haben, kommt es hier zur nächsten signifikanten Herausforderung für die pharmazeutischen Unternehmen. Aber auch die Gesellschaft und die Gesundheitssysteme sind v. a. bei der Frage der Finanzierbarkeit betroffen.
Können Sie das anhand eines konkreten Beispiels erläutern?
In den letzten Jahrzehnten hat es viele medizinische Innovationen gegeben, die das Leben und die Heilungschancen erheblich verbessert haben. Als Beispiel seien hier die enormen Erfolge bei der Behandlung von Krebserkrankungen bei Kindern zu nennen. Auf der anderen Seite sind gerade in der Onkologie aber auch die Behandlungskosten in den letzten 20 Jahren nahezu explodiert.
Kostete ein Krebsmedikament im Jahr 2000 durchschnittlich zwischen 5.000 und 10.000 US-Dollar, so stieg dieser Wert im Jahr 2015 auf circa 150.000 US-Dollar. Diese hohen Kosten für teure und innovative Medikamente müssen auch angesichts des demografischen Wandels und unter ethischen Gesichtspunkten finanziert werden können. Es ist unklar, ob wir zukünftig alles finanzieren können, was diagnostisch und therapeutisch möglich ist. Hier wird den Generika und Biosimilars ein immer höherer Stellenwert zukommen, um die Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme und deren Finanzierbarkeit langfristig sicherzustellen. Kostengünstige, qualitativ hochwertige und sichere Medikamente werden den Zugang der Patienten zu wichtigen und lebensrettenden Therapien weiterhin ermöglichen.
Gibt es weitere Problemfelder?
Eine weitere Herausforderung sind die immer komplexer werdenden Lieferketten und steigenden Produktionskosten. Gerade während der Coronapandemie haben wir gesehen, welchen Einfluss funktionierende Lieferketten beziehungsweise deren Unterbrechung für die Versorgung der breiten Bevölkerung mit essenziellen Medikamenten hat. Durch veränderte Kundenbedürfnisse und steigende Anforderungen hinsichtlich Compliance und Regulierungen, kommt es zu zusätzlichen Herausforderungen, die durch innovative Konzepte und sehr gut ausgebildete Fachkräfte gelöst werden müssen.
Inwieweit könnten all diese Herausforderungen die Wertschöpfungskette der Pharmaunternehmen beeinflussen?
Um den oben genannten Herausforderungen gerecht zu werden, wird das zukünftige Wertschöpfungsmodell der pharmazeutischen Industrie signifikant weiterentwickelt werden müssen. Abgesehen von Entwicklung, Produktion und Vermarktung sowohl von innovativen Medikamenten als auch von günstigen Generika und Biosimilars wird die Wertschöpfungskette der Zukunft weit darüber hinaus gehen, was durch die Umschreibung „Value Beyond Pill“ gut ausgedrückt wird, zu Deutsch etwa „Der Wert jenseits des Medikaments“. Hier spielen nicht nur zusätzliche Serviceangebote für Patienten, sondern auch innovative Konzepte der Finanzierung und Risikoteilung eine Rolle.
Beispielhaft seien hier die Konzepte des Risksharings oder von Outcome-basierten Vergütungen genannt. Um die Lieferfähigkeit und Versorgung der Bevölkerung mit essenziellen Medikamenten sicherzustellen, werden zukünftig innovative Formen von Liefer- und Produktionsketten nötig werden. Beispiele dafür sind globale Netzwerkkonzepte sowie ein selektives In- und Outsourcing der Produktion beziehungsweise der Rohstoffversorgung für die Produktion. Um Liefer- und Produktionsketten effizient und effektiv gestalten zu können, bedarf es einer komplexen und verlässlichen Bedarfsplanung und eines entsprechenden Beschaffungsmanagements.
Wie kann diese Veränderung grundsätzlich gelingen?
Eine wesentliche Voraussetzung, um die genannten Wertschöpfungsveränderungen durchführen zu können, ist und bleibt die Digitalisierung. Für die komplexe Just-in-time-Lieferung und -Produktion ist der Einsatz von leistungsfähigen IT-Systemen zur Optimierung von Produktionsprozessen unabdingbar. Eine bessere Vorhersage von Absatzmengen und die entsprechend abgeleitete Bedarfs- und Produktionsplanung können nur durch eine digitale Unterstützung und neue Technologien entwickelt und umgesetzt werden. Dabei wird auch der Einsatz der künstlichen Intelligenz eine große Rolle spielen.
Die Technik ist die eine Seite, das adäquat ausgebildete Personal die andere Seite der Medaille. In welchen Bereichen der Pharmaindustrie werden Ihrer Ansicht nach heute und in Zukunft verstärkt Fachkräfte gesucht?
Qualifizierte Fachkräfte werden in nahezu allen Bereichen gesucht, unter anderem in den klassischen Berufsfeldern wie Marketing, Finanzen, Prozessplanung, Medikamentenzulassung oder in der Medizin. Es werden außerdem neue Berufsfelder entstehen, um die innovativen Technologien inklusive der künstlichen Intelligenz für die gesamte Wertschöpfungskette eines pharmazeutischen Unternehmens effizient nutzen zu können. Medizinische Informatiker, Data-Scientists oder Spezialisten für das digitale Multichannel-Marketing und den Vertrieb sind einige Beispiele dafür.
Die Herausforderung wird sein, diese Fachleute einerseits auszubilden, sie andererseits aber auch für die Unternehmen zu gewinnen und dort halten zu können. Mit Blick auf die besonders gesuchten Fachkräfte wird sich der „War for Talents“ weiter verschärfen, ein unschöner Begriff, der allerdings die prekäre Lage auf dem Arbeitsmarkt ganz gut trifft. Deshalb sollte nicht nur die Attraktivität von Unternehmen für neue Fachkräfte erhöht werden, auch interne Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen müssen dem Personalbedarf und der Personalrekrutierung gerecht werden.
Gehen wir noch etwas ins Detail. Welche Kernkompetenzen werden für Fachkräfte in pharmazeutischen Unternehmen wichtiger?
Grundsätzlich werden vor allem fachübergreifende Schnittstellenkompetenzen benötigt, die weit über klassische Positionen und Berufsfelder hinausgehen. Beispiele wären Mediziner mit fundierten betriebswirtschaftlichen Kenntnissen oder Marketingspezialisten mit einem breiten Einblick in die Medizin und Therapieindikation. Darüber hinaus werden Prozessplanungsspezialisten mit fundierten Kenntnissen zukünftiger Absatzkanäle an Bedeutung gewinnen.
Die Herausforderung wird sein, diese neuen Berufsfelder durch entsprechende Weiterbildungsangebote zu unterstützen und diese Kompetenzen durch passende Bildungsangebote überhaupt erst einmal zu definieren. Hier ist die enge Zusammenarbeit zwischen pharmazeutischen Unternehmen und den verschiedenen Institutionen des Bildungssektors unabdingbar.
Gibt es allgemeine Kompetenzbereiche, die relevant sein werden?
Nicht zu vernachlässigen sind selbstverständlich die Themen Nachhaltigkeit, modernes Management und Führungsmethoden sowie die veränderten Ansprüche jetziger und zukünftiger Mitarbeiter. Gerade in Zeiten, in denen hoch spezialisierte Fachkräfte gesucht werden, die auf dem Arbeitsmarkt ohnehin rar sind, muss die grundsätzliche Attraktivität eines Unternehmens durch verschiedene Maßnahmen speziell in diesen Bereichen erhöht werden.
Nur so lassen sich kompetente neue Fachleute gewinnen und halten. Hier geht es u. a. auch um eine moderne Mitarbeiterführung und Personaleinsatzplanung sowie um flexible Arbeitszeiten und innovative Konzepte zur fachlichen und persönlichen Weiterbildung am Arbeitsplatz, um nur einige Aspekte zu nennen. Dies kann nur mit entsprechendem Engagement auf Managementebene, in den Personalabteilungen und bei den einzelnen Mitarbeitern funktionieren.
Zur Person
Michael Wiechmann ist Experte im Bereich Unternehmens- und Gesundheitsmanagement und hat über 20 Jahre in verschiedenen internationalen Gesundheits- und Pharmaunternehmen Führungsaufgaben wahrgenommen. Dazu zählen beispielsweise: Gründer und Geschäftsführer PAN Group / Biotech, Senior Vice President und medizinischer Leiter bei Allianz Healthcare, medizinischer Direktor bei „The Medicines Company“ (MDCO) sowie aktuell die weltweite Leitung des Medical Affairs Bereichs bei Sandoz Biopharmaceuticals in der Firmenzentrale in Basel.
Darüber hinaus war er bis 2018 über 10 Jahre akademischer Direktor und Professor für Healthcare-Management an der Munich Business School MBS und brachte dort u. a. die Konzeption und Implementierung eines Executive MBA „Health Care Management“ voran.
Interview: Hayat Issa