12/05/2025

Tag der Pflegenden 2025: Experteninterview mit Prof. Dr. Jörg Hallensleben

Am 12. Mai wird jährlich der Internationale Tag der Pflegenden gefeiert – ein Anlass, der auf den Geburtstag von Florence Nightingale zurückgeht und weltweit die Bedeutung der professionellen Pflege würdigt. 2025 lenkt der Internationale Pflegerat (ICN) den Blick darauf, wie eng das Wohlbefinden von Pflegenden mit der Leistungsfähigkeit ganzer Gesundheitssysteme und Volkswirtschaften verknüpft ist.

Prof. Dr. Jörg Hallensleben, Leiter des Studiengangs Pflege an der APOLLON Hochschule, nimmt das diesjährige Motto des weltweiten Aktionstages „Our nurses. Our future.“ zum Anlass, um über die gesundheitliche Lage von Pflegekräften in Deutschland, strukturelle Herausforderungen im Pflegewesen sowie über wirksame Wege zu mehr Wertschätzung und beruflicher Zufriedenheit zu sprechen.

Herr Prof. Dr. Hallensleben, das diesjährige Motto des Internationalen Tags der Pflegenden lautet „Our Nurses. Our Future. Caring for nurses strengthens economies.“ und rückt das Wohlbefinden der Pflegenden in den Mittelpunkt – wie definieren Sie „Wohlbefinden von Pflegenden“?

„Wohlbefinden“ ist ein schillernder Begriff. Im Alltag verwende ich das Wort im hedonistischen Sinne einer positiven Stimmung, die mit Freude und vielleicht sogar Lust verbunden ist, aber leider kein länger anhaltender Zustand. Man kann darunter aber auch Lebenszufriedenheit verstehen, also ein stabileres Muster, das aus der Verwirklichung eines überwiegend gelingenden, insgesamt guten Lebens resultiert. Bezüge zur Gesundheit gibt es in beiden Konzepten. 1946 hat die WHO Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ definiert.

Seither ist viel geforscht worden. Außer Frage steht inzwischen, dass Wohlbefinden nicht nur von individuellen Faktoren wie Lebensereignissen und dispositionellen Merkmalen beeinflusst wird, sondern auch von den Lebensbedingungen – und in diesem Zusammenhang nicht zuletzt von der Arbeitswelt. Ein hoher Grad an Wohlbefinden oder Lebenszufriedenheit an der Arbeitsstelle steht nachweislich in Zusammenhang mit besserer Gesundheit, angezeigt etwa durch weniger Schlafbeschwerden, geringere Burnout-Raten und letztlich reduzierter Mortalität. Der Umkehrschluss gilt logischerweise auch.

Wie steht es um die Gesundheit der beruflich Pflegenden in Deutschland?

Wenn wir die Arbeitsunfähigkeitstage als Indikator heranziehen, wohl nicht sehr gut. In den alljährlich vorgelegten AOK-Fehlzeitenreporten nehmen die Pflegeberufe stets einen unbefriedigenden Platz in der Spitzengruppe derjenigen Berufe mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen ein. In der Altenpflege tätige Personen fehlten zuletzt im Durchschnitt an 34,7 Tagen arbeitsunfähig im Jahr[1], das ist eine Menge.

Was sind die Gründe?

Die relevanten Faktoren für Arbeitszufriedenzeit sind bekannt: gute Arbeit – im Sinne von sinnvoll und schaffbar –, work-life-balancierte Arbeitszeiten, faire Entlohnung, gute Führung, gutes Team. Sinnvoll war Pflege schon immer, wobei Pflegefachpersonen ihr Potenzial nicht überall voll ausschöpfen können und sich der Berufsstolz deshalb in Grenzen hält. In puncto Vergütung hat sich für die Pflege in den letzten Jahren das Blatt nachweislich zum Guten gewendet. Bei den anderen Faktoren weiß man es nicht genau, aber offenbar ist hier noch viel Luft nach oben. Bemerkenswert ist der Einfluss der Covid-19-Pandemie.

„Vor Corona“ war das Pflegepersonal in der Altenpflege im Durchschnitt zehn Tage weniger arbeitsunfähig als während der Pandemie. Das Hochschnellen der Arbeitsunfähigkeits-Raten im Zuge der Pandemie ist leicht erklärlich. Überraschend ist jedoch, dass die Raten nach der Pandemie zwar wieder etwas gesunken sind, aber längst nicht annähernd auf das Niveau „vor Corona“. Ich habe hierfür noch keine Erklärung gefunden. Eine allgemeine Post-Corona-Erschöpfung reicht mir nicht. Vermutlich ist es ein Faktorenbündel.

Welche Rolle spielt das Betriebliche Gesundheitsmanagement beim Thema Wohlbefinden in der Pflege?

Ich glaube, allen Arbeitgebern in Deutschland ist inzwischen klar geworden, dass sie sich bei diesem Thema engagieren müssen. Treiber dieser Entwicklung ist weniger der Gesetzgeber als vielmehr die Konkurrenz um das knappe (Pflege-)Personal. Dass ein Pflege-Arbeitgeber die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio sponsert, ist heute wohl eher die Regel als die Ausnahme.

Allzu oft beschränken sich die unter der Überschrift „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ ergriffenen Maßnahmen aber auf ein „Herumdoktern“ an Symptomen. Die Arbeitsbedingungen selbst werden selbst dann nicht in den Blick genommen, wenn sie erkennbar gesundheitsschädlich sind. So wird dann eben auf vielen Intensivstationen weiterhin im Drei-Schicht-System gearbeitet und in vielen ambulanten Pflegediensten „geteilt“, also sowohl morgens als auch abends.

Wie kann aus Ihrer Sicht eine nachhaltige Kultur der Wertschätzung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen entstehen – und welche Wirkung hätte dies auf das Wohlbefinden der Mitarbeitenden?

Erlauben Sie mir zunächst eine Vorbemerkung: Wertschätzung kann und sollte sich durchaus auch in so handfesten Gegebenheiten wie der Vergütung oder den eben angesprochenen Dienstzeiten manifestieren – und nicht nur in der Unternehmenskultur. Aber, na klar, eine wertschätzende Unternehmenskultur ist ein Desiderat; fast jedes Unternehmen strebt danach. Cultural Change ist aber leichter versprochen oder gefordert als umgesetzt. Mitmachen sollen bei diesem Thema schließlich alle Beschäftigten. Wenn dabei das Führungspersonal nicht mit gutem Beispiel vorangeht, nützen schöne Soll-Sätze im Unternehmensleitbild, wie „Wir pflegen einen wertschätzenden Umgang“, herzlich wenig.

Der ICN betont, dass das Wohlbefinden von Pflegekräften auch eine gesamtwirtschaftliche Bedeutung hat. Der Untertitel des diesjährigen Tags der Pflegenden lautet „Caring for nurses strengthens economies“ Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen gesunden Pflegekräften und einer starken Gesundheitswirtschaft?

Ein Punkt wurde schon angesprochen. Würden Pflegekräfte in der Altenpflege in Deutschland nicht an 35 von knapp 250 Arbeitstagen im Jahr arbeitsunfähig fehlen, sondern wie die Ärztinnen und Ärzte nur an zwölf Tagen, würde das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem eine Menge Geld sparen und die Patientinnen und Patienten wären besser versorgt. Über die Betrachtung der gesundheitlichen Probleme beruflich Pflegender sollte aber auch nicht in Vergessenheit geraten, dass die Pflegeprofession durch ihr Wirken zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung beiträgt.

Welche strukturellen Veränderungen im deutschen Gesundheits- und Pflegewesen halten Sie für notwendig, um das Wohlbefinden von Pflegenden hierzulande langfristig zu verbessern?

Wünschen würde ich mir eine Menge. Wenn ich realistisch bleibe, bin ich schon froh, wenn die neue Bundesregierung die positiven Ansätze der letzten Jahre fortsetzen würde. Aller berechtigten Kritik im Detail war und ist zum Beispiel das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz im Prinzip richtig, da es die Qualität und Wirtschaftlichkeit der verbleibenden Krankenhäuser verbessert und damit bessere Rahmenbedingungen für die Krankenhauspflege schafft.

Ein Meilenstein für die Pflegeprofession wäre die Umsetzung des Pflegekompetenzgesetzes gewesen. Pflegefachpersonen hätten erstmals eigenverantwortlich bestimmte bisher Ärztinnen und Ärzten vorbehaltene Leistungen in der Versorgung erbringen dürfen, etwa im Rahmen von Community Health Nursing. Der fertige Gesetzentwurf ist aufgrund der vorgezogenen Neuwahl des Bundestags leider nicht mehr zustande gekommen.

Immerhin gibt es Grund zum Optimismus, dass die neue Bundesregierung ähnliche Regelungen verabschieden wird. Die eigenständige Heilkundeausübung steht im Koalitionsvertrag. Großartig wäre es, wenn die Pflegeversicherung auf stabile finanzielle Beine gestellt werden könnte. Da sich CDU, CSU und SPD in den Koalitionsverhandlungen bei diesem Thema nicht haben einigen können, gibt es auf diesem Feld aber weniger Grund zum Optimismus.

In der Diskussion um neue Versorgungsmodelle gewinnt das Community Health Nursing an Bedeutung. Welche Potenziale sehen Sie in diesem Ansatz für das Wohlbefinden von Pflegenden – insbesondere im Hinblick auf Arbeitszufriedenheit und berufliche Autonomie?

Community Health Nursing (CHN) bietet beste Chancen für die weitere Professionalisierung der Pflege. Die dort tätigen Pflegefachpersonen berichten überdies durchweg positiv von ihrem neuen Tätigkeitsfeld in Gesundheitszentren, im Öffentlichen Gesundheitsdienst oder im Quartiersmanagement. Bisher waren das allerdings nur Modellprojekte. Der Modellcharakter bringt besonders viele Freiheiten mit sich. Mit der Etablierung im Regelbetrieb werden sicherlich einige der bisherigen Aufgaben, wie zum Beispiel Projektmarketing, verschwinden. Aber CHN wird ein vielfältiges und interessantes Arbeitsgebiet bleiben.

Zum Abschluss: Welche Impulse möchten Sie zum Tag der Pflegenden 2025 setzen?

An der APOLLON Hochschule ist vor wenigen Tagen der Masterstudiengang Community Health Nursing gestartet. An der Entwicklung dieses Studiengangs habe ich mitgewirkt und natürlich verfolge ich die weitere Entwicklung mit großem Interesse und Hoffnung. Besonders am Herzen liegt mir das damit verwandte Thema der Pflegeberatung von pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien. Es ist schließlich so, dass drei von vier pflegebedürftigen Menschen fast ausschließlich von An- und Zugehörigen versorgt werden (müssen). Eine gute Beratung dieses großen Personenkreises ist daher imminent wichtig – und zwar sowohl für die Gesellschaft als auch für die Pflegeprofession. Wer dort arbeitet, kann im Rahmen von familienfreundlichen Arbeitszeiten eine Menge bewirken.

Zur Person 

APOLLON Hochschule Prof. Dr. Jörg Hallensleben

Prof. Dr. Jörg Hallensleben leitet den Studiengang Pflege (B. Sc.) an der APOLLON Hochschule. Auf der Basis eines Politikwissenschaftsstudiums in Hamburg und Marburg promovierte er 1996 an der Philipps Universität Marburg mit einer Arbeit über die Einführung der Pflegeversicherung. Weitere wichtige Stationen seiner wissenschaftlichen Laufbahn waren eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Begleitforschungsprojekt zur Einführung der Pflegeversicherung der Stadt Münster, eine Vertretungsprofessur für Theorie und Praxis der Pflege in Jena sowie eine Vertretungsprofessur für Pflegemanagement an der Hamburger Fernhochschule. Seine akademische Vita ist eng mit der praktischen Pflege verschränkt – beginnend mit seinem Zivildienst im Krankenhaus und seiner späteren Ausbildung zum Krankenpfleger (Diplom 1986).

[1] . [Vgl. AOK-Fehlzeitenreport 2024, S. 369]