STRESS BEWÄLTIGEN IM ALLTAG. DARAUF KOMMT ES AN
Tipps, um Stress zu reduzieren und zu bewältigen, gibt es zahllose. Doch was ist wirklich wirksam? Melanie Netzer, Psychologin und Lehrende an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft, verrät, worauf es bei der Stressbewältigung ankommt.
Eine nachhaltig funktionierende Stressbewältigung ist in einem Fernstudium – insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie – zweifellos essentiell. Als Absolventin zweier Fernstudiengänge bin ich mit den besonderen Herausforderungen eines Fernstudiums bestens vertraut und kenne die Mehrfachbelastungen, Belastungsspitzen und spezifischen Stressoren.
Zur gleichen Zeit kenne ich auch die weit verbreiteten und immer wieder rezitierten Tipps zur Stressbewältigung. Dabei musste ich feststellen, dass viele Empfehlungen und Ratschläge tatsächlich wie Schläge in die Magengrube des Betroffenen sind. Denn meist läuft es bei diesen empfohlenen Stressbewältigungsstrategien auf eine nicht unerheblich lange To-do-Liste hinaus, die noch mehr Stress und zusätzlichen Frust hervorruft, sofern die Stressbewältigung nach dem vorgegebenen Fahrplan nicht gelingt. An einem empfohlenen Stressbewältigungsprogramm zu scheitern, kann dann schnell ein Gefühl der Unzulänglichkeit hinterlassen und die eigene Selbstwirksamkeitserwartung mindern. Ergebnis: Noch mehr Stress!
Dabei ist absolut unstrittig, dass Atemtechniken, Muskelentspannungstechniken, Achtsamkeit, Psychohygiene, Mental- und Zeitmanagementtechniken, Meditation sowie ein sportlicher Ausgleich grundsätzlich äußerst hilfreich sind, um Stress zu bewältigen. Aber muss man das denn wirklich alles umsetzen? Jeden Tag? Muss Stressbewältigung perfekt sein, um zu wirken? Kostet das nicht eine irre Zeit, die ich sowieso nicht habe?
Stress zu bewältigen, sollte keinen Stress verursachen
Stressbewältigung, die extra Zeit kostet, verfehlt meist ihre Wirkung oder kann diese nicht voll entfalten. Richtig effektiv ist Stressbewältigung, wenn sie in den (Arbeits-)Alltag integriert wird.
Das beginnt damit, dass ich anstatt nervige Radiomusik über mich ergehen zu lassen, die eigene Lieblingsmusik höre oder dass ich beginne zu erkennen, wo sich im (Arbeits-)Alltag Leerlaufzeiten finden lassen, die sich gut für die eigene Selbstfürsorge nutzen lassen. Weitere Beispiele sind:
- Auf dem Weg ins Bad oder zum Auto Schultern kreisen,
- während des Kaffeekochens einmal richtig durchatmen,
- an der Kasse im Supermarkt innerlich ein stärkendes Mantra wiederholen,
- gedanklich an einen inneren Kraftort reisen,
- vor dem Einschlafen im Bett nochmals sanft die Muskeln anspannen, um im Anschluss besser zu entspannen.
Es geht nicht um mehr, sondern um anders. Manchmal ist es entscheidender sich mit der konkreten Umsetzung einzelner Basics an der richtigen Stelle eingesetzt zu befassen anstatt mit der kompletten Liste all dessen, was getan werden könnte, sollte und müsste. Denn in der Auflistung der vielen wissenschaftlich fundiert belegten Stressbewältigungsansätze liegt meist noch keine Komplexitätsreduktion, welche jedoch ganz entscheidend ist, um überhaupt klar denken, Schwung holen und anfangen zu können.
Anders gesagt: An einer allzu verzweigten Kreuzung ist Stocken, Zögern und ratloses Stillstehen doch sehr nachvollziehbar. Zu viele Aus- und Lösungswege sind (in ihrer Wirkung) letztlich gar keine. Alles auf einen Weg oder möglichst wenige, die in dieselbe Richtung weisen, herunterzubrechen, macht das Voranschreiten da schon wesentlich einfacher.
„Mach doch Sport!“ – hilft dieser Ratschlag bei Stress wirklich?
Wenn Stressbewältigung nicht gelingt, dann oft, weil diese selbst zum Stress wird. Daher ist es sinnvoll, erst einmal zu bestimmen, auf welcher Ebene eine Stressbewältigung überhaupt ansetzen sollte, um effektiv und nachhaltig zu sein. Würden Sie sich eine Fußpilzsalbe auftragen, um Halsschmerzen zu behandeln oder würden Sie mit einer Kamillelösung gurgeln, wenn Sie einen lästigen Fußpilz loswerden wollen? Wohl eher nicht. Auch Stressbewältigungsstrategien müssen passgenau sein, um wirklich zu helfen.
Und trotzdem erleben wir es häufig, dass Sport und Auspowern als „Lösung“ eingesetzt werden, wo eigentlich massive Zeitprobleme und unzureichendes Selbstmanagement bestehen. Dann wundern sich einige, dass während des Joggens die Rädchen im Kopf nicht stillstehen wollen, die die Gedanken erst so richtig und immer tiefer hinein in den Treibsand des Stresserlebens schicken. Ein Zeitproblem kann nicht weggeatmet werden und gegen nagende Gedanken der Selbstabwertung hilft es nicht regelmäßig die Yoga-Matte auszurollen.
Wo liegen Ihre Schwierigkeiten bei der Stressbewältigung?
Auch ganz im Sinne der bereits angesprochenen zwingend notwendigen Komplexitätsreduktion und Prioritätensetzung muss für eine erfolgreiche Stressbewältigung zunächst definiert werden, auf welcher Ebene die bisherigen Schwierigkeiten in der Umsetzung der Stressbewältigung liegen.
- Geht es darum, dass es für Stressoren, wie Zeitdruck, Prüfungsangst oder Lärm, noch keine adäquaten Werkzeuge zu deren Prävention, Linderung oder Auflösung gefunden und/oder konsequent eingesetzt wurden (z. B. Lärmschutz bei Lärm)?
- Oder geht es vielmehr darum, dass vorhandene Stressoren in ihrer Auswirkung respektive ihrem Belastungspotential massiv gesteigert werden, weil die eigenen Gedanken stressverstärkend wirken?
- Vielleicht geht es auch darum, dass das Grundanspannungslevel zu hoch ist und Regenerationsphasen nicht als solche erkannt und/oder nicht konsequent genutzt werden?
Gert Kaluza (2014) trennt sauber zwischen Stressoren, Stressverstärkern und Stressreaktion, um die Unterscheidung zwischen instrumenteller, mentaler und regenerativer Stresskompetenz zu treffen und so eine komplexitätsreduzierte, passgenaue und somit effektive Stressbewältigung zu ermöglichen.
Was kann bei negativen, stressverstärkenden Gedanken helfen?
Was bedeutet das in der konkreten Umsetzung? Das Problem sind negative, stressverstärkende Gedanken? Lassen Sie sich gerne von den folgenden Ideen inspirieren:
- Vor dem Einschlafen nicht Schafe sondern Gründe für Dankbarkeit und schöne Momente zählen,
- einen wertschätzenden, liebevollen und ermutigenden Ton im Selbstgespräch bzw. inneren Dialog wählen,
- mit sich selbst mal so geduldig und wertschätzend umgehen, wie mit dem besten Freund/der besten Freundin,
- den bestmöglichen Ausgang für wahrscheinlich oder zumindest für möglich halten und den guten Szenarien mehr Raum geben.
- erst wahrnehmen, nur wahrnehmen (sachlich beschreibend) ohne sofort zu bewerten. Gerne auch wieder einen Schritt zurücktreten zur reinen Wahrnehmung, falls man schon mitten in der Bewertung und ihren Folgen (in Form negativer Emotionen) steckte. Mittels der eigenen Sinneswahrnehmungen (was sehe, höre, rieche, schmecke, spüre/fühle ich in genau diesem Moment) achtsam im Hier und Jetzt sein, anstatt im Kopf schon wieder voraus oder in der Vergangenheit gefangen,
- eine Sache tun und ganz bei dieser Sache sein.
Was kann bei fehlender Regeneration helfen?
Das Problem liegt in fehlender Regeneration? Vielleicht können Sie die folgenden Impulse etwas zum Weiterdenken und Erproben anregen:
- Eigene Bedürfnisse (wieder) für wichtig erachten und eigene Ressourcen, wie Kraftquellen, wohltuende Rituale, schöne Erinnerungen, Lieblingsmusik, Lieblings-essen, Aromadusche, Netzwerk etc. bewusst nutzen lernen,
- sich einmal am Tag kurz ganz bewusst etwas Gutes tun,
- sich einmal ganz gezielt lockern, bewegen oder auch auspowern, ausschütteln und behutsam dehnen,
- zwischendurch einmal innehalten und tief und ruhig atmen, den Atem fließen lassen – leicht und einfach ein und aus,
- mal wieder lächeln, schmunzeln oder auch herzhaft lachen – auch oder gerade, wenn einem das Lachen vergangen ist oder aktuell im Hals stecken bleibt. Was war Ihr lustigstes Erlebnis? Welche Art Comedy trifft Ihr Komikzentrum? Worüber können Sie immer wieder lachen, obwohl es schon lange zurückliegt? Welche lustigen Kurzvideos im Internet oder welche lustigen Filme gefallen Ihnen besonders? Was ist Ihr Lieblingswitz? Schenken Sie der humorigen Seite Ihres Lebens (wieder) mehr Aufmerksamkeit.
Der gemeinsame Nenner aller Stressbewältigungsstrategien
Weniger ist mehr – außer bei der Selbstfürsorge. Man muss nicht auf allen Ebenen gleichzeitig ansetzen, sondern gezielt auf derjenigen, von der der meiste resultierende Stress ausgeht,z. B. bei den „inneren Antreibern“ wie dem eigenen Perfektionismus, der als Stressverstärker wirkt. Es gilt, eigene Bedürfnisse zu achten und zu befriedigen sowie den Druck und den Anspruch, alles gleichzeitig zu stemmen, herauszunehmen. Wo würde dies mehr Sinn ergeben als bei der Stressbewältigung?
Literatur
Kaluza, Gert (2014). Stress und Stressbewältigung. EHK; 63: 261–266.