
„Pflegefachpersonen in der Erstversorgung sind eine Schlüsselrolle mit Zukunft“ – Neuer Studiengang Master Community Health Nursing (M. Sc.)
Experteninterview mit Professorin Dr. Claudia Kemper
Die demografische Entwicklung stellt das deutsche Gesundheitswesen vor große Herausforderungen: Immer mehr ältere und chronisch kranke Menschen treffen auf eine zunehmend angespannte Versorgungslage – insbesondere in ländlichen Regionen. Während Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte vielerorts fehlen, zeigen internationale Modelle, wie innovative Konzepte in der Primärversorgung entlasten können. Ein Beispiel: Community Health Nurses, die als akademisch ausgebildete Pflegeexpertinnen und -experten mit erweiterten Kompetenzen eine zentrale Rolle in der gesundheitlichen Betreuung vor Ort übernehmen. Mit dem neuen Masterstudiengang Community Health Nursing reagiert die APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft auf genau diese Entwicklung. Im Interview spricht Prof. Dr. Claudia Kemper, Dekanin des Fachbereichs Pflege, Soziales & Therapie, unter anderem über die Ziele des Studiengangs, die Bedeutung der Rolle der Community Health Nurses – und darüber, wie ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem von diesen neuen Fachkräften profitieren kann.
Frau Prof. Dr. Kemper, was versteht man eigentlich unter Community Health Nursing?
Das Berufsbild Community Health Nursing (CHN) bezeichnet eine spezialisierte, akademisch qualifizierte Pflegefachperson, die in der gemeindenahen Gesundheitsversorgung tätig ist. Community Health Nurses (CHNs) arbeiten präventiv, beratend und versorgend mit dem Ziel, die Gesundheit in der Bevölkerung – insbesondere bei vulnerablen Gruppen wie älteren, chronisch kranken oder sozial benachteiligten Menschen – zu fördern und zu erhalten. Sie übernehmen eigenständig Aufgaben wie Gesundheitsberatung, Früherkennung, Koordination von Versorgungsleistungen und fallbezogenes Case Management. Dabei arbeiten sie eng mit anderen Berufsgruppen wie Ärztinnen und Ärzten, Sozialarbeiter:innen oder Physiotherapeutinnen und -therapeuten im multiprofessionellen Team zusammen. CHNs leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Primärversorgung und zur wohnortnahen, sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung. Ihr Tätigkeitsfeld reicht von Hausbesuchen über Gesundheitszentren bis hin zu kommunalen Präventionsprogrammen.
Was sind die Hauptziele des neuen Studiengangs Community Health Nursing?
Der Masterstudiengang Community Health Nursing (M. Sc.) verfolgt das Ziel, Pflegefachpersonen für neue, erweiterte Aufgaben im Gesundheitssystem zu qualifizieren. Absolventinnen und Absolventen sollen in der Lage sein, eigenständig zu diagnostizieren, zu beraten, Pflege zu planen und zu koordinieren – Kompetenzen, die bisher vorrangig Ärztinnen und Ärzten vorbehalten waren. Damit stärkt der Studiengang die pflegerische Handlungskompetenz und fördert eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit anderen Gesundheitsberufen. Ein weiterer zentraler Schwerpunkt liegt auf der Förderung von Gesundheitsversorgung in Gemeinden und Kommunen. Die Studierenden sollen lernen, gezielt präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen umzusetzen, insbesondere für vulnerable Gruppen wie ältere oder chronisch kranke Menschen. Gleichzeitig legt der Studiengang großen Wert auf die interprofessionelle Zusammenarbeit, etwa in Gesundheitszentren, Hausarztpraxen oder kommunalen Strukturen. Die Integration in multiprofessionelle Teams wird gezielt gefördert. Durch Wahlpflichtmodule können Studierende sich außerdem spezialisieren – beispielsweise im Bereich Schmerzmanagement, Demenzversorgung oder digitaler Pflege. Auf diese Weise können sie individuell auf die komplexen Anforderungen in unterschiedlichen Versorgungskontexten reagieren.
Darüber hinaus bereitet der Studiengang auf die zukünftigen Herausforderungen im Gesundheitswesen vor: Der demografische Wandel, der Fachkräftemangel und die zunehmende Komplexität von Versorgungssituationen erfordern hochqualifizierte Pflegekräfte mit akademischem Hintergrund. Mit dem erfolgreichen Abschluss sind die Absolventinnen und Absolventen bestens gerüstet, um die pflegerische Versorgung innovativ und zukunftsorientiert mitzugestalten.
Wie kann CHN zur Entlastung des Gesundheitssystems beitragen und wie ist die aktuell die diesbezügliche rechtliche Lage in Deutschland?
CHN kann einen bedeutenden Beitrag zur Entlastung des Gesundheitssystems leisten, indem es die Primärversorgung stärkt und Versorgungslücken schließt. CHNs übernehmen präventive, beratende und koordinierende Aufgaben direkt in den Gemeinden. Sie tragen so dazu bei, Krankenhausaufenthalte zu vermeiden und die Versorgung chronisch kranker sowie älterer Menschen zu verbessern. Durch ihre Tätigkeit in multiprofessionellen Teams fördern sie eine integrierte Versorgung und verbessern die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung.
In Deutschland befindet sich die rechtliche Verankerung von CHN noch in der Entwicklung. Derzeit gibt es keine einheitliche gesetzliche Regelung, die den Einsatz und die Kompetenzen von CHNs klar definiert. Pilotprojekte und Modellvorhaben, wie das CoSta-Projekt, zeigen jedoch das Potenzial und die Wirksamkeit dieses Ansatzes. Um CHN flächendeckend zu etablieren, sind Anpassungen im Berufsrecht und eine klare rechtliche Grundlage erforderlich, die den erweiterten Handlungsspielraum und die Verantwortlichkeiten dieser Fachkräfte festlegen. Dies würde nicht nur die Rolle der Pflege im Gesundheitssystem stärken, sondern auch zu einer effizienteren und patientenzentrierten Versorgung beitragen.
Inwiefern kann Community Health Nursing dabei helfen, dem Ärztemangel – besonders im ländlichen Raum – entgegenzuwirken?
Community Health Nurses (CHNs) können dem zunehmenden Ärztemangel, besonders im ländlichen Raum, wirksam begegnen. Sie übernehmen Aufgaben wie Gesundheitsberatung, Prävention, Case Management bei chronischen Erkrankungen und Hausbesuche – insbesondere bei immobilen Patientinnen und Patienten. Damit ergänzen und entlasten sie die ärztliche Versorgung gezielt. Ein großer Vorteil liegt im niedrigschwelligen Zugang: CHNs arbeiten wohnortnah in Gemeinden, Schulen oder sozialen Einrichtungen. Sie erkennen gesundheitliche Probleme frühzeitig, behandeln oder vermitteln weiter – oft noch bevor ärztliche Hilfe nötig ist.
Gerade bei chronisch kranken Menschen bieten CHNs durch regelmäßige Kontrollen, Medikamentenmanagement und Schulungen eine kontinuierliche Betreuung. Das senkt Komplikationsrisiken und vermeidet Krankenhausaufenthalte. Auch im Bereich Prävention leisten CHNs einen wichtigen Beitrag, etwa durch Aufklärung, Impfberatung oder Gesundheitsförderung. So lassen sich Krankheiten verhindern und der Behandlungsaufwand langfristig reduzieren.
Zudem stärken CHNs als Schnittstelle zwischen Ärztinnen und Ärzten, Therapien und sozialen Diensten die interprofessionelle Zusammenarbeit und sorgen für eine effizientere Versorgung. Community Health Nursing ist eine wichtige Ergänzung der medizinischen Versorgung – vor allem in strukturschwachen Regionen. CHNs entlasten das Gesundheitssystem und sichern durch präventive, koordinierende und betreuende Tätigkeiten eine flächendeckende Versorgung.
Wie wird im Studium auf interprofessionelle Zusammenarbeit vorbereitet?
An der APOLLON Hochschule wird interprofessionelle Zusammenarbeit gezielt gefördert – etwa durch die Verzahnung von Modulen über mehrere Studiengänge und außercurriculare Angebote. Hier studieren Pflegefachpersonen gemeinsam mit anderen Berufsgruppen aus der Gesundheitsversorgung. Dabei stehen in den Seminaren Perspektivwechsel, Rollenverständnis und Teamkommunikation im Fokus. Ein weiterer zentraler Bestandteil ist das fallbezogene Lernen: Studierende bearbeiten komplexe Praxisfälle, zum Beispiel zur Versorgung chronisch oder mehrfach erkrankter Patientinnen und Patienten. So wird die Rolle der Community Health Nurse im Netzwerk realitätsnah eingeübt.
Auch die Schulung in Kommunikation und Koordination ist fest im Curriculum verankert. Modelle wie zur lösungsorientierten Gesprächsführung oder die Teilnahme an Praxisseminaren stärken die interprofessionelle Handlungskompetenz – ebenso wie der Einsatz digitaler Tools. Im Rahmen von Projektarbeiten entwickeln sie gemeinsam mit anderen Berufsgruppen gesundheitsfördernde Angebote im Gemeinwesen. Dabei lernen sie, Zuständigkeiten zu klären, gemeinsame Ziele zu formulieren und Maßnahmen umzusetzen.
Wichtiger Bestandteil des Studiums ist zudem die Auseinandersetzung mit der eigenen Berufsrolle. In begleitenden Seminaren und Projektarbeiten wie beispielsweise im Modul „Ethik in Community Health Nursing“, reflektieren die Studierenden Fragen zu Verantwortung, Abgrenzung und interprofessionellem Selbstverständnis. Im CHN-Studium wird interprofessionelle Zusammenarbeit nicht nur theoretisch vermittelt, sondern praxisnah erlebt und reflektiert – als Schlüsselkompetenz für eine vernetzte, kooperative und patientenzentrierte Gesundheitsversorgung.
Welche Chancen eröffnen sich den Absolventinnen und Absolventen beruflich?
Dank ihrer erweiterten Kompetenzen übernehmen CHNs koordinierende Aufgaben an den Schnittstellen zwischen Ärztinnen und Ärzten, Pflege, Therapie, Sozialarbeit und Angehörigen. Sie sind etwa im Case- oder Entlassungsmanagement tätig und sichern so die Organisation und Qualität der Versorgung in interprofessionellen Teams. Im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention entwickeln und leiten sie Programme zu Themen wie Ernährung, Bewegung, psychische Gesundheit oder Suchtprävention – in Schulen, Betrieben oder Gemeinwesenprojekten. Dabei stärken sie gezielt die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung.
Auch Tätigkeiten in Forschung, Lehre und Projektarbeit stehen CHNs offen: Sie wirken an wissenschaftlichen Studien mit, lehren an Hochschulen oder gestalten innovative Projekte – etwa zur Digitalisierung, kommunalen Gesundheitsförderung oder Pflegeentwicklung. Zudem sind CHNs in neuen Versorgungsmodellen gefragt, etwa in Primärversorgungszentren oder Quartiersprojekten. Dort arbeiten sie eng mit kommunalen Trägern, Krankenkassen und sozialen Einrichtungen zusammen, um Versorgung neu zu denken.
Ihre akademische Qualifikation bereitet sie außerdem auf Führungsaufgaben vor – zum Beispiel in Pflegeeinrichtungen, kommunalen Gesundheitsdiensten oder Versorgungsnetzwerken. Dort entwickeln sie Konzepte, steuern Prozesse und sichern Qualitätsstandards. Der Masterstudiengang CHN qualifiziert Pflegefachpersonen für zentrale Rollen im Gesundheitssystem von morgen – in direkter Versorgung, Koordination, Forschung und Leitung. CHNs gestalten die Pflege aktiv mit und bringen sie näher an die Menschen – effizient, vernetzt und ganzheitlich.
Was braucht es, um Community Health Nursing langfristig in Deutschland zu etablieren?
Um CHN in Deutschland langfristig zu etablieren, braucht es klare gesetzliche Rahmenbedingungen. Das Berufsbild der CHNs muss mit definierten Aufgaben und Kompetenzen rechtlich verankert werden – inklusive heilkundlicher Befugnisse wie Diagnostik und Verordnungen im klar abgesteckten Rahmen. Ebenso wichtig ist der Ausbau akademischer Ausbildungsangebote. Studiengänge müssen flächendeckend verfügbar und dauerhaft gesichert sein. Einheitliche Curricula sowie berufsbegleitende und duale Wege ermöglichen eine praxisnahe Qualifizierung auf hohem Niveau. Auch die Finanzierung muss geregelt werden: CHN-Leistungen sollten Teil der Regelversorgung sein und von Krankenkassen vergütet werden. Erfolgreiche Modellprojekte gilt es zügig in dauerhafte Strukturen zu überführen.
Für eine wirksame Integration ins Gesundheitssystem müssen CHNs als Teil multiprofessioneller Teams arbeiten – etwa in Primärversorgungszentren oder Gemeindezentren. Der Zugang zu digitalen Gesundheitsdaten und Telemedizin ist dafür unerlässlich. Nicht zuletzt braucht es mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz. Öffentlichkeitsarbeit, interprofessioneller Austausch sowie begleitende Forschung können dazu beitragen, das Potenzial von CHNs deutlich zu machen und ihre Rolle als gleichwertige Versorger:innen zu etablieren. Die Grundlagen sind vorhanden – jetzt braucht es entschlossenes Handeln, um CHN als festen Bestandteil einer wohnortnahen, patientenzentrierten Gesundheitsversorgung in Deutschland zu verankern.
Interview: Hayat Issa
Zur Person
Frau Prof. Dr. Claudia Kemper ist Professorin für Versorgungsforschung mit dem Schwerpunkt Therapie und Pflege an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft und leitet dort als Dekanin den Fachbereich Pflege, Soziales & Therapie sowie den Studiengang Angewandte Therapiewissenschaften. Ihre akademische Laufbahn umfasst das Studium der Religionspädagogik, sowie der Gesundheitswissenschaften an der Universität Bremen, wo sie anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Versorgungsforschung tätig war. In ihrer Promotion untersuchte sie die Versorgung pflegebedürftiger Schlaganfallpatientinnen und -patienten. Neben umfangreicher Lehrerfahrung an Hochschulen und Fachschulen war sie als Geschäftsführerin maßgeblich am Aufbau eines stationären Hospizes beteiligt. Sie berät den Vorstand der Deutschen Alzheimergesellschaft als Teil des fachlichen Beirats, ist Mitglied des Expertenpool des Innovationsfonds und engagiert sich in der Leitlinienarbeit des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.