19/11/2021

PERFEKTIONISMUS IM STUDIUM – HELFER ODER HEMMSCHUH?

Viele Studierende haben ein stark ausgeprägtes Leistungsmotiv. Das kann ein guter Motor sein, um ein Studium erfolgreich abzuschließen. Wann aber wird ein Leistungsstreben kontraproduktiv und ungesund? Dieser Frage geht Melanie Netzer auf den Grund. Sie ist Psychologin und Lehrende an der APOLLON Hochschule und weiß daher, welche Herausforderungen Studierenden begegnen, die zum Perfektionismus neigen.

Gibt es ein „zu perfekt“? Hinter dieser verkürzten Fragestellung können vielschichtige Anschlussfragen folgen:

  • Wann wird Perfektionismus zur Falle?
  • Wann ist Perfektionismus hinderlich im Studium?
  • Hat Perfektionismus unbedingt immer mit einem Leistungsmotiv zu tun und was, wenn nicht?
  • Um welchen Preis wird Perfektion angestrebt?
  • Reicht exzessives Lernen?
  • Wird auch auf Schlaf verzichtet?
  • Ist der Griff zu Neuro-Enhancement bzw. Hirndoping ein normales Mittel, um leistungsfähig zu sein?
  • Was wäre, wenn Perfektion per se Utopie und Illusion ist – eine Blase, die früher oder später platzt?

Und am wichtigsten:

Was wäre, wenn gut tatsächlich gut genug ist? Was wäre, wenn ich als Mensch genüge, ohne etwas ganz Bestimmtes leisten zu müssen? Was wäre dadurch möglich? Was wäre dann nicht mehr nötig?

„Ich bin Perfektionist“

Beim Versuch einem Perfektionisten seinen Perfektionismus zu nehmen, wird man zwangsläufig auf enorme Widerstände stoßen. Denn wer lässt sich schon gerne die Luft zum Atmen nehmen? Für manch einen ist der eigene Perfektionismus tatsächlich zum bestimmenden Wirkprinzip und zur Existenzberechtigung geworden – untrennbar verwoben mit der eigenen Persönlichkeit. „Ich bin Perfektionist!“ Wenn ein Satz mit „Ich bin…“ beginnt, dann wird schnell klar, dass alles, was danach kommt tatsächlich zu einem identitätsbestimmenden Kriterium geworden ist. Lässt sich Verhalten nicht leichter ändern als die eigene Persönlichkeit? Demnach müsste man das Perfektionsstreben erst einmal wieder zum erlernten Verhalten degradieren, um es nachhaltig ändern zu können und man müsste überhaupt erst einmal eine Absicht herausbilden, dieses Verhalten ändern zu wollen.

Ehrgeiz = Perfektionismus?

Hohe Ansprüche an sich selbst, ein gesunder Ehrgeiz und ein gesundes Leistungsstreben – all das kann ein guter Motor sein, um ein Studium vielleicht sogar berufsbegleitend und unter verschärften Bedingungen (wie einem corona-bedingten Lockdown) erfolgreich abzuschließen. Ist mit Ehrgeiz und Leistungsstreben bereits ein Perfektionismus beschrieben? Eher nicht; denn beim Perfektionismus gehen zunehmend das gesunde Maß und die Handlungsalternativen verloren. Alles wird verbissen. Nicht umsonst leiden Perfektionisten oftmals unter nächtlichem Zähneknirschen (Bruximus), Kiefergelenksproblemen (CMD) oder verspannungsbedingten Kopfschmerzen.

So oder ähnlich könnten typische Glaubenssätze einer Perfektionistin aussehen:

Gut ist nicht gut genug! Es ist nie genug! Ich muss immer die/der Beste und immer besser als alle anderen sein! Ich muss wirklich jedes Detail auswendig wissen. Nur wenn ich perfekt bin, dann werde ich respektiert, anerkannt und geliebt. Wenn ich nicht perfekt bin, dann passiert etwas ganz Schlimmes.“

Warum Perfektionismus zum Problem werden kann

Was kann helfen, den eigenen Perfektionismus zu zähmen und warum könnte das überhaupt ein lohnenswertes Ziel sein? Jede übertriebene Stärke wird zur Schwäche. Perfektionismus blockiert. Perfektionismus führt besonders in der Kombination mit der Angst, den eigenen perfektionismusbedingten extrem hohen Ansprüchen nicht genügen zu können zu Problemen wie Prokrastination („Aufschieberitis“), Prüfungs- und Versagensangst mit der Folge vermehrter Anstrengung, was den Teufelskreis schließt. Perfektionistische Prokrastinierer/-innen schieben Aufgaben auf, aus Angst sie nicht perfekt erfüllen zu können (vgl. Höcker, Engberding & Rist, 2017). Manchmal wird eine Arbeit dann nicht fristgerecht eingereicht, bevor sie in einem nicht-perfekten Stadium abgegeben wird. Die Folge sind dann paradoxerweise schlechtere Ergebnisse als die eines Studierenden mit einem eher mittelmäßigen Leistungsanspruch.

Eigene Erwartungen und Befürchtungen beleuchten

Wie also sehen mögliche Auswege konkret aus? Nun, einige Lösungsansätze ergeben sich bereits aus den oben genannten Glaubenssätzen heraus. Wer sich einmal mit den eigenen Erwartungen und Befürchtungen auseinandersetzt, der kann Bewältigungs- und Lösungsansätze erarbeiten. Reflexionsfragen können lauten:
  • Welche Belohnung wird im Kontext der Perfektion erwartet? („Wenn ich perfekt bin, dann…“)
  • Welche Bedrohungen werden befürchtet? („Wenn ich nicht perfekt bin, dann…“).
Wer diese Sätze ehrlich zu Ende bringt, der kann die eigenen Gedanken hinterfragen und sie von vermeintlichen Wahrheiten erst wieder zu Gedanken machen, zu denen konstruktive Alternativen gefunden werden können. Die eigenen Gedanken können dann wieder motivierende Begleiter statt „Einpeitscher“ und „abwertende Richter“ sein. Erwartungen lassen sich anpassen.

Du darfst…Pause machen

Auch ein inneres Gegengewicht kann hilfreich sein. In diesem Kontext wird oftmals von „Erlaubern“ gesprochen (Ich darf…). Denn das Ausspannen, der Ausgleich, die Pause und das süße Nichtstun setzen eine innere Erlaubnis dazu voraus. Wer sich nicht mehr erlaubt, auch einmal (ohne schlechtes Gewissen) Spaß zu haben und aufzutanken, der läuft leer. Wer nicht mehr genießt, wird schnell ungenießbar. Bewusster, achtsamer Genuss im Alltag kann ein Mittel gegen die innere Enge des Perfektionismus sein. Mal wieder durchatmen, frei aufatmen. Wer den Brustkorb weitet, weitet auch den Geist – und die Seele. Was kann ich mir heute Gutes tun? Diese Frage sollte man nicht nur theoretisch im Kopf, sondern durch konkrete Handlung und Umsetzung der gefundenen Ansätze beantworten.

Den Motor Angst abstellen

Was, wenn Angst der Antrieb und Leistungsmotor ist? Der Perfektionist bzw. die Perfektionistin ist oftmals ein ängstlicher, unsicherer Mensch, der glaubt, durch Leistung Sicherheit herstellen zu können (vgl. Bonelli, 2019) – so als würde die Perfektion (beispielsweise in Form von Bestnoten oder Titeln) unangreifbar und unverletzbar machen. Wenn Perfektionismus ein angstbestimmtes Konstrukt ist, dann ist Emotionsbewältigung ein Lösungsschlüssel. Wer Sicherheit anders generiert als über Leistungs- und Perfektionsstreben, der befreit sich. Wer zu seinen Ängsten steht, entmachtet sie. Wer aufhört, immer sofort gegen die   Angst zu kämpfen, der gewinnt Energie und inneren Frieden zurück. Denn im Kampf liegt kein Frieden! Perfektionismus ist oft Vermeidungsverhalten. Aber Vorsicht: Vermeidung macht Angst nur größer. Imperfektionstoleranz und Fehlerfreundlichkeit befreien! Als Mensch darf man aus Fehlern lernen. Wer sich selbst keine Fehler erlaubt, verkrampft – und macht dann alleine deshalb Fehler.

Leistung von Liebe entkoppeln

Oftmals liegt hinter einem verbissenen Perfektionismus gar nicht primär ein Leistungs-, sondern vielmehr ein Anschlussmotiv, weil die Begriffe Leistung und Liebe gekoppelt wurden. Leistung gegen Liebe – wer von diesem Prinzip getrieben ist, tut gut daran, die beiden Aspekte wieder zu entkoppeln. Wer perfekt performen möchte, um sich so soziale Anerkennung, Bewunderung und Liebe zu sichern, wird vielleicht zu spät feststellen, dass Perfektionismus eher einsam macht als zu vernetzen. Es gibt weitaus bessere Wege Verbundenheit mit anderen Menschen zu erleben als über den Versuch, immer und überall Bestleistung zu bringen.

Fehler akzeptieren und mit Leichtigkeit lernen

Leichtigkeit und Leistung sollten ebenso wie Spaß und Arbeit wieder als miteinander vereinbar wahrgenommen werden. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ solche Spruchweisheiten sozialisieren uns zu Wesen, die annehmen, dass Arbeit keinen Spaß machen darf und das Leistungen zu erbringen immer anstrengend und vielleicht sogar quälend sein muss. Wie wäre es also den Spaß an der Sache wiederzuentdecken, alles mit Humor und einem Augenzwinkern zu betrachten und Lernen    wieder spielerischer und lustvoller zu gestalten?

Folgende Sätze könnten hilfreiche Begleiter in typischen Perfektionismus-Trigger-Situationen sein:

„Kleine Schwächen machen liebenswert. Nur wer Fehler macht, kann daraus lernen. Ich mache es so gut ich gerade kann und dann lasse ich los. Gut ist gut genug! Mut zur Lücke!“ Und vor allem: „Ich bin liebenswert. Ich bin genug. Ich genüge.“

Challenge: Kleine Fehler nicht sofort zu beheben, sondern dazu zu stehen kann (langfristig) gut tun. Im ersten Moment fühlt es sich vielleicht noch nicht gut an, weil es unruhig und unzufrieden macht, aber wenn man erleben darf, dass keine Katastrophe resultiert und trotz des kleinen Fehlers alles gut und man selbst in Sicherheit ist, dann lernt man entscheidend dazu und findet zu mehr Gelassenheit.

Perfektionismus kann Helfer und Hemmschuh zugleich sein. Er darf mit im Boot sitzen, aber sollte nicht der alleinige Steuermann sein. Motive dürfen da sein, aber sie müssen nicht immer handlungsleitend werden. Wer sich auf die Reise macht, die eigene Bedürfnisstruktur besser kennenzulernen, kann sinnvolle Handlungsalternativen finden und innerlich zur Ruhe kommen, statt getrieben zu bleiben.      

Literatur

  • Bonelli, R.M. (2019). Perfektionismus - Wenn das Soll zum Muss wird. München: Droemer.
  • Höcker, A., Engberding, M. & Rist, F. (2017). Heute fang ich wirklich an! Prokrastination und Aufschieben überwinden – ein Ratgeber. Göttingen:hogrefe.