30/09/2024

Experteninterview mit Prof. Dr. Argang Ghadiri: „Die Arbeitspausenkultur in Deutschland ist insgesamt als rückschrittlich zu betrachten“

Warum insbesondere häufigere kurze Arbeitsunterbrechungen statt langer Pausen vorteilhaft für das Wohlbefinden und damit auch für das Leistungsvermögen sind, hat Professor Dr. Argang Ghadiri erforscht. Der Experte für betriebliches Gesundheitsmanagement berichtet im Interview über digitale und inhaltliche Trends in der betrieblichen Gesundheitsförderung und plädiert für facettenreiche Maßnahmen, die möglichst passgenau für die jeweiligen Mitarbeitenden entwickelt und durchgeführt werden sollten. Er betont, dass die vermeintlich „verlorene“ Pausenzeit längst durch Erkenntnisse aus Psychologie, Ergonomie oder Ökonomie widerlegt ist. Vielmehr sei ein Mix aus Bewegung, Ernährung und Entspannung ideal für Arbeitspausen im Job und könne für neue Motivation und Frische bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sorgen.

Professor Dr. Ghadiri, was ist die betriebliche Gesundheitsförderung und warum ist sie so wichtig?

Bei der betrieblichen Gesundheitsförderung geht es einfach gesagt um Maßnahmen, die in Unternehmen angeboten werden, um die Beschäftigten insgesamt gesund und munter zu halten. Ob es sich dabei um einen Yogakurs in der Mittagspause oder ein Meal-Prepping-Seminar handelt, ist abhängig davon, was seitens der Beschäftigten gewünscht und benötigt wird. Dafür sind zum Beispiel Gesundheitsbefragungen eine gute Basis, aber auch andere Datenquellen wie Fehlzeitenreporte, Gefährdungsbeurteilungen und Ähnliches sind geeignet. Wenn diese Daten gesammelt werden und in der Folge damit begonnen wird, Maßnahmen zu evaluieren und noch weitere gesundheitsrelevante Bereiche miteinander verknüpft werden, so ist man fast schon beim betrieblichen Gesundheitsmanagement angekommen. Es geht also um das Planen, Steuern und Kontrollieren, kurz gesagt um das Management, von Gesundheit im Betrieb.

Stellen Sie aktuelle Trends im betrieblichen Gesundheitsmanagement beziehungsweise in der betrieblichen Gesundheitsförderung fest?

Die Digitalisierung hat im Kontext der betrieblichen Gesundheit zahlreiche Auswirkungen gehabt. Viele Maßnahmen werden nun auch digital oder hybrid angeboten, sie sind stärker mit Apps verknüpft. In diesem Zusammenhang sind zunehmend sogenannte Gamification-Ansätze vorzufinden, mit denen auf spielerische Art und Weise für das Thema Gesundheit sensibilisiert wird. Die mentale Gesundheit ist dabei übrigens seit Langem ein zentrales Thema. Außerdem gilt es, immer wieder die Chancen und Grenzen von digitaler Arbeit abzuwägen. Da gibt es auf der einen Seite durchaus negative Auswirkungen wie zum Beispiel die durch den Trend zum Homeoffice begünstigte Isolation und digitaler Stress. Auf der positiven Seite sind aber viele hilfreiche Angebote zu verzeichnen, etwa digitale Chatbots für die mentale Gesundheit oder individuelle, KI-gestützte Ernährungspläne für Beschäftigte mit speziellen gesundheitlichen Anforderungen.

Gibt es gesamtgesellschaftliche Themen, die zunehmend eine Rolle spielen?

Was meine Kolleginnen, Kollegen und ich tatsächlich immer häufiger und unmittelbar mitbekommen, sind die Auswirkungen des Klimawandels sowie Themen der ökologischen Nachhaltigkeit. Ob es um die Arbeit während einer Hitzewelle im Büro oder um das steigende Hautkrebsrisiko bei Outdoor-Workern geht, solche Themen rücken immer mehr in den Fokus.

 

Welche Rolle spielen Arbeitspausen in der betrieblichen Gesundheitsförderung?

Im Grunde genommen leider keine große. Es gibt aktive Mittagspausen oder ähnliche Angebote, aber die Arbeitspausenkultur in Deutschland ist insgesamt als rückschrittlich zu betrachten. In den Köpfen stecken leider immer noch fest verankerte Sätze wie „Wenn ich jetzt durchziehe, kann ich früher Feierabend machen!“ oder „Wer Pause macht, verliert Zeit!“. Das ist aber völliger Quatsch, man sollte eigentlich mehrere, jeweils kürzere Pausen machen. Aber auch das, was in der Pause gemacht wird, ist entscheidend. Diesen Bereich habe ich im Rahmen meiner Dissertation mit Kolleginnen und Kollegen untersucht, und das hat durchaus Spaß gemacht. Wir haben uns zum Beispiel unterschiedliche Ansätze wie Boxen, Entspannungssysteme mit audio-visueller Stimulation, Power-Napping und weitere Beispiele für innovative Arbeitspausen näher angeschaut.

Und was sind mit Blick auf die Arbeitspausen aktuell die zentralen Erkenntnisse?

Da ist sich die Forschung ausnahmsweise mal einig, ob Psychologie, Ergonomie oder Ökonomie. Sämtliche Disziplinen der Arbeitspausenforschung können belegen, dass die vermeintlich „verlorene“ Zeit, die in eine Pause investiert wird, durch eine höhere Produktivität kompensiert wird. Und je nachdem, was ich in der Pause mache, kann ich sogar überkompensieren. Es lohnt sich also, eine Pause einzulegen, wenn man ermüdet ist. Was besonders positiv wirkt, ist auch relativ gut durch Forschungsdaten abgesichert. Das, womit die Pause verbracht wird, sollte komplementär zur vorherigen Tätigkeit sein. Das bedeutet Bewegung bei geistiger Tätigkeit und Entspannung bei körperlicher. All das muss nicht länger als 15 Minuten dauern, um zu wirken.

Das klingt gut und im Prinzip einfach umsetzbar. Aber was sagt der Gesetzgeber zum Thema Arbeitspausen?

Das ist alles nach § 4 S.1 im Arbeitszeitgesetz geregelt. Demzufolge ist die Arbeit durch Ruhepausen von mindestens 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs bis zu neun Stunden und 45 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden insgesamt zu unterbrechen. Der Arbeitgeber darf auf diese Pause keinen Einfluss nehmen. Aber spannend wird es, wenn der Arbeitgeber besondere Maßnahmen anbietet und die Beschäftigten diese freiwillig nutzen können. Arbeitgeber können den Beschäftigten zusätzliche Kurzzeitpausen gewähren, die sie nach eigenem Ermessen nehmen dürfen.

Wie lassen sich Arbeitspausen in der Praxis besonders gesundheits- und leistungsförderlich gestalten und wie werden sie möglichst sinnvoll genutzt?

Aus der Forschung und meinen Erfahrungen aus der Praxis hat es sich im Sinne einer positiven Pausenkultur bewährt, wenn sich Arbeitgeber ernsthaft Gedanken machen und optisch ansprechende Pausenräume gestalten. Damit ist nicht nur das Design gemeint, sondern auch die Relaxmöglichkeiten. Das könnte ein Entspannungsbereich mit Massagesystemen als Ruheoase sein, aber ebenso gut ein Ort zum Austoben mit Boxsack oder Kickertisch. Das Konzept sollte auf das jeweilige Unternehmen und die Bedürfnisse der Beschäftigten abgestimmt werden. Dies setzt nicht zuletzt ein Zeichen in Richtung Team: Arbeitgeber zeigen dadurch Wertschätzung, und das macht viel aus.

Verraten Sie uns zum Abschluss, seit wann und warum Sie sich so intensiv mit dem Thema Arbeitspausenforschung auseinandersetzen?

Das war eigentlich ein ganz pragmatischer Ansatz. Ich hatte mir im Studium viele spannende Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung überlegt, die ich gerne in der Praxis untersuchen wollte. Es stellte sich aber als schwierig heraus, mit meinen Proband:innen zeitlich auf einen Nenner zu kommen. Deshalb habe ich die Maßnahmen schließlich vor allem in gemeinsamen Pausenzeiten angeboten. So entstand meine erste eigene Studie, die ich im Rahmen meiner Master-Thesis gemacht habe. Ich habe dabei die Säulen Bewegung, Ernährung und Entspannung im Rahmen von Mittagspausen untersucht und erkannt, dass diese Kombination den Beschäftigten wirklich helfen kann und Arbeitgeber ihnen damit etwas Gutes tun. Die erholten Proband:innen zu befragen und währenddessen in ihre glücklichen Gesichter zu blicken, das hat mich dabei sehr motiviert.

 

Interview: Hayat Issa

 

Zur Person
Professor Dr. Argang Ghadiri hat seit September 2023 an der APOLLON Hochschule für Gesundheitswirtschaft eine Professur für Betriebliches Gesundheitsmanagement inne und verantwortet die Bereiche „Betriebliches Gesundheitsmanagement“, „Psychische Gesundheit bei Erwerbstätigkeiten“ und „Gesunde Führung in Unternehmen“. Des Weiteren gehört er zu den Nachhaltigkeitsbotschafter:innen der Klett Gruppe. Ghadiri studierte Betriebswirtschaftslehre in Sankt Augustin, St. Gallen, Duisburg und Helsinki. Seit 2010 forscht er im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements und lehrt das Fach an verschiedenen Hochschulen. In seiner Promotion zum Dr. rer. oec. untersuchte er die Gesundheit aus psychologischer, neurowissenschaftlicher und ökonomischer Sicht. Seine Facharbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet sowie durch nationale und internationale Stipendien gefördert. Seit 2015 führt er Unternehmensaudits zu Gesundheitsmanagementsystemen durch.

 

Prof. Dr. Argang Ghadiri
Prof. Dr. Argang Ghadiri