IN DER PSYCHOLOGISCHEN BERATUNG GESCHICHTEN ERZÄHLEN
Kann man in der psychologischen Beratung Geschichten erzählen? Marcus Eckert, Dekan des Fachbereichs Psychologie und Pädagogik an der APOLLON Hochschule, beantwortet das mit einem Ja. In dem folgenden Text erläutert er weiter wie sich Geschichten in Beratungen nutzen lassen und gibt damit einen Einblick in den neuen Master Psychologie (M. Sc.) mit Schwerpunkt Beratungspsychologie.
Das menschliche Gehirn konstruiert ohnehin permanent Geschichten. Wir erzählen uns selbst Geschichten über uns, über andere und über die Welt. Aus diesem Grund sind Geschichten ein wunderbares Medium, um Angebote und Einladungen auszusprechen. Aber wie lassen sich Geschichten nutzen?
„Ratschläge sind auch nur Schläge“, das weiß schon der Volksmund. Und sie lösen nicht selten Widerstände aus, wenn sie in der Beratung geäußert werden. Die Klienten und Klientinnen reagieren dann mit „Ja, das habe ich auch schon versucht, aber …“. Der „kritische Verstand“ analysiert – und verwirft dabei oft Möglichkeiten zu früh. Zugleich geraten Klientinnen und Klienten auf diese Weise häufig in eine „Konsumenten-Haltung“ à la „Ich warte einmal ab, ob die Beraterin einen brauchbaren Vorschlag hat“. Viel effektiver ist es jedoch, wenn die Klientin bzw. der Klient selbst Ideen entwickelt, wie sein/ihr Problem gelöst werden kann. Oder selbst Haltungen und Perspektiven eingenommen werden, die vielleicht günstiger sein könnten als die aktuellen.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, ein Paar kommt in die Beratung, weil beide Partner stets streiten. Es stellt sich nach einiger Zeit heraus, dass beide keine Vision von gelingender Partnerschaft für sich haben, sondern den Fokus auf die Defizite des jeweils anderen legen. Auf den Vorschlag der Beraterin, sich gemeinsame Aktivitäten zu überlegen, kam der Einwand: „Das haben wir auch schon gemacht, aber es hat nichts gebracht!“.
Die Beraterin in unserem Beispiel entscheidet sich, eine Geschichte zu erzählen: „Vor einiger Zeit hatte ein Kollege von mir ein Paar in der Beratung, dass ähnlich wie Sie keine Idee hatte, wie eine Partnerschaft gemeinsam gelingend gestaltet werden kann. Sie haben lange, aber erfolglos an einer Lösung gearbeitet. Irgendwann waren das Paar und auch der Kollege so ratlos, dass das Thema Trennung immer größer wurde. Hätten sie sich trennen wollen, wäre das sicherlich eine gute Idee gewesen zu überlegen, wie das gut miteinander funktionieren kann. Allerdings hatten beide sich für die Beratung entschieden, weil sie sich nicht trennen, sondern einen gemeinsamen Weg finden wollten. Und ohne dass der Kollege es beabsichtigt hatte, führte diese offensichtliche Ratlosigkeit dazu, dass er sie aufmerksamer wahrnahm und sich viel häufiger als sonst fragte, was sie sich wohl gerade wünscht oder was er tun könne, damit es ihr gut geht. Sie, die sie oft sehr kritisch mit ihm war, konnte plötzlich seine Bemühungen erkennen und sich schon über diese freuen. Beide hatten zur nächsten Sitzung zwar immer noch keine umfassende Idee von gelingender Partnerschaft, es hatte sich jedoch eine kleine, aber entscheidende Sache verändert: Ihr Blick füreinander war sehr viel wohlwollender geworden und sie waren bereit, in die Frage nach gelingender Gemeinsamkeit hineinzuleben. Am Ende der Sitzung zitierte er sogar Rilke: „Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“ Die Beraterin beendete die Geschichte mit folgendem Hinweis: „Diese Geschichte kam mir in den Sinn und natürlich sind Sie ein komplett anderes Paar. Aber manchmal bringen Geschichten Saiten in uns zum Klingen, die dann wieder zu ganz anderen oder auch ganz ähnlichen Lösungen, Sichtweisen oder Haltungen führen. Geschichten können ermutigen in Antworten hineinzuleben und neugierig zu sein, wie sie nach und nach in uns wachsen.“
Geschichten können in der Beratung mentale Suchimpulse auslösen, die sich häufig unbewusst entwickeln. Milton Erickson, einer der Wegbereiter der modernen Hypnotherapie nutzte Geschichten oft in diesem Sinne. Er beobachtete sehr detailreich und klug seine Klientinnen und Klienten und verwob diese Beobachtungen mit Vorschlägen, Anregungen und mentalen Suchaufträgen zu einer Geschichte. Und weil Geschichten nicht nur mit dem „kritischen Verstand“, sondern vor allem emotional verarbeitet werden, sind sie oft Einladungen zur unbewussten Konstruktion von Antworten und Lösungen. In den Antworten und Lösungen können die Vorschläge der Beraterin/ des Beraters berücksichtigt werden – aber das muss nicht zwingend der Fall sein. Vielfach lösen die Vorschläge Ideen aus, die viel besser zu den Klientinnen und Klienten passen. Geschichten sind Angebote, die „gehirngerecht“ sind. Und deswegen sollten wir sie in der Beratung klug nutzen.
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