14/02/2022

Humanistische Bildung in der Industrialisierung 4.0

Erstmals bieten wir an der APOLLON Hochschule mit dem Bachelor Berufspädagogik (B. A.) einen pädagogischen Studiengang an. Deswegen setzt sich Prof. Dr. Michael Rosentreter als Experte kritisch mit der humanistischen Bildung auseinander, die darauf abzielt, mündige Menschen heranzubilden.

Fällt der Begriff „humanistischer Bildung“, denkt man reflexartig an altsprachliche Gymnasien. Der Forschungsdekan einer renommierten Fakultät meinte ablehnend: „Humanistische Bildung? – Ich habe einen Ausbildungsauftrag!“ Gehört die Idee der humanistischen Bildung in die Mottenkiste? Oder kommt ihr in den technisch-zivilisierten Gesellschaften erneut Bedeutung zu?

Die Idee der humanistischen Bildung

Die Idee einer individuellen grundlegenden Menschenbildung durch die Befassung mit den Wissenschaften hat ihren Ursprung in einer Zeit der Revolutionen und Reformen. Vor dem Hintergrund der französischen Revolution verfasste Wilhelm von Humboldt – der Bruder des Forschungsreisenden Alexander wohlgemerkt – 1792 eine Denkschrift zum Verhältnis von Individuum und Staat. „Der wahre Zweck des Menschen …“ schreibt er, „… ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ In einem zeitgemäßen Deutsch geht es um die ausgewogene Förderung aller Fähigkeiten und Begabungen einer Person. Dabei steht nicht die Herausbildung einseitig begabter Genies im Vordergrund, sondern die Förderung individueller Fähigkeiten. Heute würde man von persönlicher Autonomie und umfassenden (Problemlösungs-)Kompetenzen als angestrebte Bildungsziele sprechen. Von derart mündigen Bürgern hätten nach Humboldt auch Staat und Gesellschaft einen Nutzen, da derart universell gebildete Persönlichkeiten Verantwortung, Innovation und Pluralität in die Gesellschaft zurückspiegeln.

„Bildung durch Wissenschaft“

Etwa 18 Jahre später herrschte in Preußen akuter Reformbedarf, denn das alte Regime zeigte sich dem revolutionären französischen Esprit militärisch und administrativ unterlegen. Im Zuge der Preußischen Reformen wurde Wilhelm von Humboldt quasi der erste „deutsche“ Bildungsminister. In diesem Amt verfasste er die Schulpläne für unser heutiges dreistufiges Bildungswesen aus Elementar- und Schulunterricht sowie universitärer Lehre. Die leitenden Grundsätze:

  • Bildungszugang für alle,
  • Förderung nach den individuellen Möglichkeiten,
  • Freiheit der Lehre und Forschung,
  • Wissenschaften als Gegenstand von Bildung.

Explizit wandte er sich gegen eine „Ausbildung“ allein zum Zweck der Erfüllung beruflicher Erfordernisse. Diese Forderung erscheint in unserer wissenschaftlich-technischen Gegenwart realitätsfern. Dennoch wurde mit den sog. Stein-Hardenber’schen Reformen die Grundlagen für Preußen als einen aufgeklärten National- und Industriestaat gelegt.

Humanistische Bildung und technischer Progress

Die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts in der digitalisierten und globalisierten Welt erzeugt neben völlig neuen Möglichkeiten und Herausforderungen auch Komplexität und Probleme. Niemand kann sich mehr sicher sein, seinen erlernten Beruf dauerhaft ausüben zu können. Angesichts solcher Umweltherausforderungen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und knapp werdender Ressourcen ist lebenslanges Lernen gefordert und (überlebens-)notwendig. Hinzu kommen daraus resultierende gesellschaftspolitische Probleme wie soziale Ungleichheit oder Demokratieverdrossenheit. Die Rolle von Experten bei der Lösung komplexer und globaler Probleme wird immer zweifelhafter.

Humanistische Bildung ohne historischen Ballast

Welchen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft kann der humanistische Bildungssatz also leisten?

Das Ansinnen eines zweckfreien Lehrens und Forschens „um seiner selbst willen“ ist purer Bildungsidealismus. Streift man solchen historischen Ballast ab, bleibt vom humanistischen Bildungsideal die Idee mündiger Bürger/-innen, die aktiv Verantwortung für sich, ihre Gesellschaften und Umwelt übernehmen. Dazu bedürfen sie einer universellen, wissenschaftlich fundierten Bildung, um gesellschaftliche, politische und ökonomische Vorgänge zu verstehen und mitzugestalten. Damit Wissenschaft an sich verständlich wird, ist es umso wichtiger geworden, auch wissenschaftstheoretische Zusammenhänge zu kennen: Wie kommen empirische Befunde zustande? Welche Limitationen begrenzen unsere erkenntnistheoretischen Möglichkeiten? Welche „Halbwertzeit“ haben wissenschaftliche Fakten?

Neben der Expertise von Spezialisten braucht es Generalisten an den Schaltstellen, damit Komplexität erfassbar wird und Problemlösungen realisierbar werden. Wissenschaftsrat, Kultusministerkonferenz und Gesetzgeber scheinen das erkannt zu haben, wenn für Lehrpläne und Curricula der beruflichen Bildung vermehrt Wissenschaftlichkeit, Persönlichkeitsbildung und zivilgesellschaftliches Engagement gefordert werden.

 

Literatur

  • Etzioni, Amitai (2009): Die aktive Gesellschaft. Eine Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft.
  • Humboldt, Wilhelm von (1997): Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staates um das Wohl seiner Bürger erstrecken (1792). In: Menze, Clemens (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt Bildung und Sprache. Paderborn: Ferdinand Schöningh. S. 5-18.
  • Nida-Rümelin, Julian (2005b): Das hat Humboldt nie gewollt. In: DIE ZEIT, 61 (10). S. 48.
  • Schelsky, Helmut (1978): Bildung in der wissenschaftlichen Zivilisation (1963). In: Pleines, Jürgen-Eckhardt (Hrsg.): Bildungstheorien. Probleme und Positionen. Freiburg/ Basel/ Wien: Herder Verlag. S. 113-129.