15/03/2023

Selbstmanagement in der Physiotherapie

Es erscheint so selbstverständlich und ist es offenbar doch nicht: die patientenzentrierte Versorgung. Dass Patientinnen und Patienten – und nicht nur eine Diagnose, ein Befund oder das Ergebnis eines Eingriffs – im Mittelpunkt stehen, forderte bereits der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2002) in seinem Gutachten 2000/2001 und auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) machte wiederholt neben der evidenzbasierten auch die patientenzentrierte Versorgung zu einem zentralen Anliegen (vgl. AWMF, 2018). Was Patientenzentriertheit bedeutet, definierten für die Physiotherapie Solvang und Fougner (2016): Neben einer ganzheitlichen Perspektive und einer respektvollen Haltung wird die aktive Rolle der Patientinnen und Patienten mit den Begriffen Empowerment und Selbstmanagement betont, die nach eigenen Worten einen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Rolle von Therapeut:innen und der von Patient:innen erforderlich machen. Mit diesem Wechsel fokussiert Physiotherapie nicht allein die Behandlung mit oder am Patienten bzw. an der Patientin, sondern muss immer auch Ressourcendiagnostik und -förderung sowie Unterstützungsmanagement anbieten. Dies entspricht dem Kern des Empowerments, das zum Ziel hat „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ (WHO,1986). Empowerment ist daher die Grundlage, damit Patient:innen nicht allein Konsumierende von Therapie sind, sondern in Eigenregie ihre Gesundheit managen (vgl. Faller et al., 2015). Auf diese Weise umschreibt der Begriff Empowerment eine zentrale Handlungsdimension der Physiotherapie, die auf Selbstmanagement ausgerichtet ist. Behandlungen, die in dieser Hinsicht erfolgreich sind, werden von Therapeut:innen als effektiv und nachhaltig eingeschätzt (vgl. Solvang; Fougner, 2016).

 

Selbstmanagement wird nicht selten synonym für Edukation benutzt. Dabei geht Selbstmanagement weit über reine Edukation im Sinne eines kognitiven Prozesses hinaus. Wissen, Fähigkeiten und Willen gleichermaßen zu entwickeln, um einen aktiven Beitrag zur Verbesserung der eigenen Gesundheit leisten zu können, das ist der Kern des Selbstmanagements (vgl. Lorig; Holmann, 2003). Gesundheitserhalt und -verbesserung liegen damit nicht allein in der Hand der Therapeut:innen, sondern hängen im Wesentlichen vom aktiven Beitrag der Patient:innen selbst ab. Gelungenes Selbstmanagement zeigt sich in gleicher Weise auf kognitiver wie emotionaler Ebene und umfasst die persönliche Einstellung zum eigenen Gesundheitszustand, das soziale Umfeld, Kommunikations- und Entscheidungsprozesse bezüglich der eigenen Gesundheit sowie die Beziehungsebene zur Therapeutin bzw. zum Therapeuten (vgl. Osborne et al., 2011).

 

Die Förderung des Selbstmanagements in der Physiotherapie betont also die aktive Rolle der Patient:innen. Dabei spielen gesundheitsrelevantes Verhalten aber auch Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle. Eine Vielzahl von muskuloskelettalen Erkrankungen gehen mit einem Mangel an körperlicher Aktivität oder Fehlbelastungen einher. Auf Art und Umfang der körperlichen Aktivität Einfluss zu nehmen, ist ein wesentlicher Faktor der Physiotherapie. Sie erreicht einen nachhaltigen Nutzen für die Patient:innen, indem Therapeut:innen Behandelnde und Coaches zugleich sind. Therapiekonzepte, die auf die Förderung des Selbstmanagements setzen, erweisen sich als effektiv, da sie krankheitsbedingten Pessimismus reduzieren und zu einer positiveren Einstellung durch Empowerment beitragen (vgl. Hurley et al., 2010).

 

Erfolgreich und wirkungsvoll sind Therapeut:innen also nur, wenn sie aktiv und aktivierend arbeiten, wenn sie in der täglichen Arbeit mit und an den Patient:innen neben Untersuchung, Diagnose und Behandlung von Beeinträchtigungen des Bewegungssystems nicht vergessen, den Menschen in einem ganzheitlichen Verständnis in den Mittelpunkt zu stellen.

 

Autorin: Prof. Dr. Claudia Kemper

 

Literatur:

  • AWMF (2018). Medizin und Ökonomie – Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung. https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Medizinische_Versorgung/20181205_Medizin_und_%C3%96konomie_AWMF_Strategiepapier_V1.0mitLit.pdf (18.04.2019).
  • Faller, H.; Ehlebracht-König, I.; Reusch, A. (2015). Empowerment durch Patientenschulung in der Rheumatologie. Zeitschrift für Rheumatologie, 74 (7), S. 603–608.
  • Hurley, M.; Walsh, N.; Bhavnani, V.; Britten, N.; Stevenson, F. (2010). Health beliefs before and after participation on an exercisedbased rehabilitation programme for chronic knee pain: doing is believing. BMC Musculoskeletal Disorders, (11), S. 31.
  • Lorig, K. R.; Holman, H. R. (2003). Self-management education: history, definition, outcomes, and mechanisms. Annals of Behavioral Medicine, (26), S. 1–7.
  • Osborne, R. H.; Batterham, R.; Livingston, J. (2011). The evaluation of chronic disease self-management support across settings: the international experience of the health education impact questionnaire quality monitoring system. The Nursing clinics of North America, 46 (3), S. 255–270.
  • Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit (2002). Gutachten 2000/2001. Band III Über-, Unter und Fehlversorgung. Baden-Baden: Nomos.
  • Solvang, P. K.; Fougner, M. (2016). Professional roles in physiotherapy practice: Educating for self-management, relational matching, and coaching for everyday life. Physiotherapy Theory and Practice, 32 (8), S. 591–602.
  • WHO (1986). Ottawa-Charta. http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf (11.05.2019).