Stressprävention bei Kindern während Corona
Prof. Dr. Marcus Eckert ist an der APOLLON Hochschule Studiengangsleiter des Bachelors Angewandte Psychologie (B. Sc.). Seine Schwerpunkte liegen u. a. in der Entwicklungs- und Schulpsychologie. Darum hat er die Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie besonders im Blick. Die Prävention von Stress steht in seinem Beitrag im Mittelpunkt:
Die Pandemie hat uns einen weiteren Winter fest im Griff – und es wird mit allen Mitteln versucht, die Schulen und Kitas offen zu halten. Zu erschreckend waren die Zahlen der Kinder und Jugendlichen, die angesichts der Pandemie und ihrer Folgen unter enormen psychischen Druck litten, Ängste und Sorgen entwickelten, depressive Symptome zeigten oder ihren Optimismus verloren. Die COPSY-Studie (COPSY = Corona und Psyche) fand, dass etwa jedes dritte Kind bzw. jede dritte Jugendliche problematische Belastungssymptome zeigte. Vor der Pandemie war es „nur“ jede Fünfte. Kinderärzte und Psychiater berichten Ähnliches.
Obwohl wir uns alle Normalität und auch normalen Kita- und Schulbetrieb wünschen, könnte es passieren, dass die epidemische Lage es erfordert, die Schulen und Kindertagesstätten erneut zu schließen – zumindest teilweise. Auch im nichtschulischen Leben werden Einschränkungen wahrscheinlicher. Bedeutet das, dass wir automatisch damit rechnen müssen, dass die Kinder und Jugendlichen psychisch wieder über Gebühr belastet werden? Gibt es Wege, wie wir die Kinder und Jugendlichen schützen können?
Die gute Nachricht – in dieser herausfordernden Zeit – lautet: Wir haben gute Chancen, die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen auch während notwendiger Einschränkungen, Lockdowns und Schließungen zu schützen. Einige Ideen möchte ich in diesem Text skizzieren. Unberücksichtigt bleiben in diesem Text all die furchtbaren Erfahrungen, die einige aber viel zu viele Kinder mit Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch während der Pandemie machen mussten. Hier geht es einen Umgang mit Belastungen unter ansonsten „normalen“ Bedingungen.
Erleben von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft schützt vor Stress
Es macht guten Sinn, einmal zu verstehen, warum Schul- und Kita-Schließungen Kinderseelen belasten können. Bis vor ein paar Jahren war diese Vorstellung absurd – die etwas Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an das Lied „Hurra, hurra, die Schule brennt“. Zum Beginn der ersten Schulschließung kamen unsere Kinder jubelnd nach Hause: „Mama! Papa! Wir haben Coronaferien – vielleicht müssen wir gar nicht mehr in die Schule! Juhu!“. Und ich selbst? Als Schüler hätte ich mir gut und gerne doppelt so viel Ferien vorstellen können, als uns zustanden.
Aber Schule ist eben mehr als nur Schule. Das haben wir alle in der Pandemie verstehen müssen. In Schule haben wir soziale Interaktionen. Wir begegnen Menschen, die wir mögen, Menschen, die einfach immer da sind und solchen, mit denen wir uns trefflich auseinandersetzen müssen und an denen wir wachsen dürfen. Schulschließungen bedeuten also nicht nur, dass Mathe und Co ins häusliche Wohnzimmer verlagert werden (schlimm genug), sondern auch, dass all diese wichtigen Begegnungen nicht mehr stattfinden. Besonders dann nicht, wenn auch außerschulisch die Kontakte reduziert werden müssen. Wir wissen aus methodisch hochwertigen Studien, dass das Erleben von Gemeinschaft unseren Körper dazu veranlasst, das Hormon Oxytocin vermehrt auszuschütten. Aus anderen Studien wissen wir, dass Oxytocin die schädlichen Wirkungen von Stress abpuffert.
Fallen nun die wichtigen und die gewohnten Kontakte und Begegnungen weg, produziert unser Körper weniger Oxytocin und in der Folge sind wir anfälliger für Stress, Angst und Depression. Das sind die Symptome, die wir bei den Kindern beobachten.
Glücklicherweise haben wir trotz der Einschränkungen gute Möglichkeiten, die körpereigene Oxytocinproduktion anzuregen. Unglücklicherweise wird das im Distanzunterricht noch viel zu selten genutzt, weil Mathe und Co vordringlicher erscheinen. Was könnte man tun? Eine ganz einfache, kleine Übung besteht darin, dass eine Person in einer Zweier- oder Dreiergruppe eine kurze Lobrede auf eine nicht anwesende Person hält (Dauer: etwa eine Minute). Sowohl die Lobende als auch die Zuhörer/-innen berichten regelmäßig, dass es ihnen nach dieser kurzen Übung besser geht. Meistens sieht man leuchtende Augen. Das funktioniert auch via Zoom und Co in den Breakout-Sessions. Es ist Distanzunterricht geeignet und eine Möglichkeit, die Oxytocinproduktion in Gang zu bringen. Auch Familien können diese kleine Übung als Ritual fest etablieren.
Diese Übung lässt sich noch steigern. Dazu berichtet eine Person von einem „Unsympathen“ und dessen Verfehlungen (fangen Sie mit einem moderaten „Unsympathen“ an). Machen Sie sich zuvor Folgendes klar: Alle Menschen wollen nur ihr Glück mehren und ihr Leid reduzieren. Wie hilft Ihnen dieses Wissen konkret dabei, echtes Verständnis für diesen „Unsympathen“ und dessen Verfehlungen zu entwickeln? In dem Maße, in dem echtes Verständnis wächst, reduziert sich allgemeines Stresserleben (das weiß man). Die Vermutung liegt nahe, dass auch hier das der Körper die Oxytocinproduktion ankurbelt. Studien gibt es – soweit ich weiß – noch keine zu dieser Fragestellung. Allerdings ist die Kunst, Menschen echte Empathie auch für uns zunächst unsympathische Personen entwickeln zu können, eine entwicklungspsychologisch bedeutsame Aufgabe im Jugendalter.
Fazit: Wenn wir weniger Kontakte und Kontaktmöglichkeiten haben, sollten diese intensiver genutzt werden. Kinder und Jugendliche machen das nicht unbedingt von allein. Sie brauchen Modelle/ Vorbilder, die das Vorleben. Und dafür brauchen Sie uns Großen.
An Belastungen wachsen
Wir haben eben eine Möglichkeit gesehen, wie man reduzierte Kontakte und das Wegfallen von Begegnungen in der Gemeinsacht (zumindest teilweise) kompensieren kann. Aber trotz allem verlangt die Pandemie uns und unseren Kindern viel ab. Es wäre sicherlich nicht schlau, dies zu leugnen. Ganz im Gegenteil: Die Studienlage ist hier sehr eindeutig: Das dauerhafte Unterdrücken belastender Emotionen macht krank. Es kann zu Angst, Sorgen und Depression führen. Allerdings – und das wissen wir auch – ist auch das kontinuierliche Sich-Bewusst-Machen der Belastungen nicht gesundheitsförderlicher: Es kann ebenfalls zu Angst, Sorgen und Depression führen. Wir sitzen also in der Zwickmühle – oder?
Glücklicherweise gibt es noch einen dritten Weg. Die gleichen Forschungsansätze, die uns zeigen, dass das Unterdrücken von belastenden Emotionen schädlich ist, zeigen uns, dass das konstruktive Umbewerten einer Situation mit Gesundheit und Wachstum einhergeht.
Stellen Sie sich einmal drei verschiedene Szenen vor:
- Sie gehen abends ins Bett und führen sich all das vor Augen, auf das Sie pandemiebedingt verzichten müssen. Und dann machen Sie sich noch klar, wie sehr sie all dies vermissen. Schauen Sie dann noch einmal auf die (steigenden) Inzidenzen an und versuchen sich auszumalen, wann es endlich wieder anders sein wird. Und genau das machten Sie jeden Abend – eine Woche lang. Wie ginge es Ihne am Ende der Woche? (Bitte nicht in echt machen)
- Sie gehen abends ins Bett. Es kommen Gedanken an das, was – z. B. pandemiebedingt – belastend war. Sie würden jetzt gerne mal sich den ganzen Mist von Seele reden. Aber das verbieten Sie sich. Es bleibt alles in Ihnen drin. Sie unterdrücken diese Gefühle, so gut Sie es können. Stellen Sie sich vor, dass machen Sie eine Woche lang jeden Abend. Wie geht es Ihnen am Ende der Woche? (Bitte auch nicht machen!)
- Sie gehen abends ins Bett und merken, wie belastend dieser Tag war. Es kommt der Wunsch auf, dass irgendwann wieder alles normal sein soll. Verständlich! Und jetzt stellen Sie fest, welch große Leistungen Sie heute und all die Tage vollbringen. Trotz der Pandemie, trotz aller Einschränkungen haben Sie sich noch nicht unterkriegen lassen. Sie haben immer wieder Wege gefunden. Auch wenn es schwer und anstrengend war. Auch wenn Sie oft am liebsten alles hingeschmissen hätten. Irgendwie hatten Sie – selbst wenn Sie nicht wissen, woher – die Kraft, aufzustehen und weiterzumachen. Und jetzt würdigen Sie – nur einen Augenblick lang – all die Kompetenzen, die Ihnen das ermöglichen. All die Kompetenzen, die Sie haben. Und vielleicht erlauben Sie sich auch ein kleines bisschen Dankbarkeit, für all das, was Ihnen dabei geholfen hat. Vielleicht für die guten Dinge und liebenswerten Menschen, die Sie haben weitermachen lassen. Stellen Sie sich vor, so oder so ähnlich würden Sie jeden Abend zu Bett gehen – eine Woche lang. Was würde das verändern? Wie würde es Ihnen gehen. (Lust, so etwas mal auszuprobieren?)
Kinder und Jugendliche brauchen auch Modelle und Vorbilder, die Ihnen vorleben, wie Sie mit Belastungen umgehen können. Und wir können diese Modelle sein: Sie müssen uns straucheln, scheitern und wieder aufstehen sehen. Und daran können wir selbst wachsen. Karl Valentin wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Es hat keinen Sinn, Kinder zu erziehen, sie machen sowieso alles nach.“ Vielleicht können wir zusammen mit unseren Kindern oder mit unseren Schülern und Schülerinnen entdecken, wie wir die Belastungen der Pandemie und auch die ganz alltäglichen Belastungen gut und gesund bewältigen. Jeden Tag auf´s Neue. Lassen Sie uns diese Gedanken mit dem Zitat von Beppo Straßenkehrer aus dem Buch Momo von Michael Ende schließen (welches übrigens auch schon Kinder verstehen):
„Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man. Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein. Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste. Das ist wichtig.“