24/04/2020

Katastrophenmedizin und Krisenmanagement: Ist die Gesellschaft infiziert?

Prof. Dr. Johanne Pundt (Präsidentin der APOLLON Hochschule und Dekanin im Fachbereich Gesundheitswirtschaft) und Prof. Dr. Michael Rosentreter (Professor für Pflegemanagement und Berufspädagogik) beleuchten die Themen Katastrophenmedizin und Krisenmanagement:

Katastrophen zeichnen sich durch die Plötzlichkeit ihres Auftretens, einem enormen Ausmaß an Zerstörung, hoher Opferzahlen und einer tiefgreifenden Transformation der Gesellschaft aus. Ob die Covid-19-Pandemie als Katastrophe einzustufen ist, bleibt angesichts der steigenden Opferzahlen abzuwarten. Auch der Umfang der durch sie verursachten gesellschaftlichen Veränderungen lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum abschätzen.

Von der Antike bis zur Aufklärung bestimmte der Begriff „Krise“ den Wendepunkt eines Handlungs- oder Ereignisverlaufs. Seitdem bringt das Wort einen epochalen Umbruch zum Ausdruck und ist zu einem politischen Schlagwort geworden. In der Philosophie Friedrich Nietzsches wohnt der Krise die Chance inne, die ursächlichen Probleme zu erkennen und zu lösen, als auch das Risiko, die Probleme zu verschärfen. Deshalb erfordern Krisen in der Regel harte Entscheidungen: Handeln oder Unterlassen, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod (Kosellek, 2004: 617). In der Krise kristallisieren sich die Facetten eines (gesellschaftlichen) Systems, sogar die Struktur der Gesellschaft deutlicher heraus, als in „normalen“ Zeiten, so dass wir im Moment Zielkonflikte erleben, die koordiniertes Handeln schwierig machen.

Während bestimmte Berufsgruppen normalerweise um Anerkennung kämpfen, werden sie in der Krise zu Helden stilisiert; die Opportunisten, die sich im regulären Alltags-Betrieb halbwegs sicher fühlen, beginnen nun zu horten, um sich Vorteile zu sichern und die verantwortungsvollen Stillen, die im Alltäglichen kaum auffallen, entwickeln in der Krise Engagement, Solidarität und Kreativität – Es ist eigentlich alles wie immer oder was ist anders?

Als (ethisches) Dilemma wird eine Situation bezeichnet, in der alle Handlungsalternativen gleich schlecht sind. Wie man es macht, es ist falsch. Dilemmata sind das Ergebnis menschlicher Handlungen, z.B. wenn Fakten falsch dargestellt oder dringend benötigte Güter künstlich verknappt werden. Katastrophenmedizin –beschränkte Therapiemöglichkeiten bei hoher Opferzahlen infolge zerstörter Infrastruktur – das ist der Alptraum aller Gesundheitsberufe. Die Knappheit an Personal und medizinischem Material erfordert die Einschätzung der Opfer nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül: Kann man noch helfen und lohnt sich der Aufwand angesichts dessen, dass jemand anderes die Hilfe zwar weniger dringend benötigt, aber dafür eine Überlebenschance erhält? Dieses als Triage (französisch „trier“=- aussuchen oder sortieren) bezeichnete Schema der Zuweisung von Hilfe oder ihrer Unterlassung stammt aus dem Militärischen. Was hat das mit Krisenmanagement zu tun? Im Gegensatz zu vielen ihrer europäischen Kollegen bemühen die deutschen Politiker die Kriegsmetapher nicht, aber der Einstieg in den Krisenmodus hat den Ausnahmezustand suggeriert. Dennoch hamstern nicht wenige Mitbürger Lebensmittel, medizinische Güter und Toilettenpapier als hätten wir Kriegszeiten – und viele horten diese Güter nicht für den eigenen Bedarf, sondern um aus der Not anderer Profit zu ziehen. Damit verhalten sie sich genau genommen streng rational, denn sie mehren ihren persönlichen (das vermeintliche Gefühl von Sicherheit) oder ökonomischen Nutzen. Gleichzeitig tragen sie aber zum Problem und zur Verschärfung der Krise bei, indem sie einerseits die Verfügbarkeit dringend benötigter Güter, z. B. zur medizinischen Therapie, verknappen und so anderseits diejenigen, die sich ihrer Verantwortung stellen, behindern oder sogar in ein ethisches Dilemma treiben. Die Triage wurde bereits genannt, aber auch die Entscheidung zwischen Selbstschutz und Hilfeleistung, wenn z. B. Schutzkleidung nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist, stellt ein ethisches Dilemma dar. In einer solchen Situation möchte man vermutlich selbst nicht auf Hilfe angewiesen sein.

Mit Hamsterkäufen und überteuerten Ebay-Angeboten von Schutzmasken bis zu Beatmungsgeräten tragen diejenigen, die sich opportunistisch verhalten, aber nicht nur zur Verschärfung der Krise bei, sondern sie erhöhen die gesellschaftlichen Kosten, z. B. wenn diese Artikel zu überhöhten Preisen von Krankenhäusern beschafft werden müssen. Dergestalt führt die vermeintliche individuelle Rationalität geradewegs in die sog. Rationalitätenfalle (Herder-Dorneich, 1994), indem die Krise verlängert sowie verschärft wird und die Begleichung des gesamtgesellschaftlichen Schadens spätestens nach der Krise auf alle umgelegt wird. Es stimmt also: in erster Linie ist die Gesellschaft infiziert!

Quellen:

Kosellek, R (2004): Krise. In: Brunner, O./ Conze, W./ Koselleck, R. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. 3. Studienausgabe. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 617-650.

Herder-Dorneich, Philipp (1994): Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens. Problemgeschichte, Problembereiche, theoretische Grundlagen, Baden-Baden: Nomos-Verlag.