06/05/2020

Ja, wenn wir doch schon einen Impfstoff hätten …

Prof. Dr. Wolfgang Hipp, Professor für Pharmamanagement und Pharmaökonomie an der APOLLON Hochschule, über die Anstrengungen einen SARS-CoV-2-Impfstoff zu finden.

Nichts ist aktueller als die Diskussion über die Zeit danach – wobei niemand genau sagen kann, wann diese Zeit beginnen wird, noch viel weniger, wie diese Zeit aussehen wird. Nur eines ist sicher: Nach der SARS-CoV-2-Pandemie ist vor der nächsten Infektionswelle. Hätten wir hier und jetzt die Wahl, die durch den garstigen Neuling verursachte Erkrankung Covid-19 gegen die gute, alte Influenza auszutauschen – wir würden es liebend gerne tun. Denn gegen die Influenza haben wir bereits das Zaubermittel, das wie kein anderes für die Beherrschbarkeit der fast unsichtbaren Gefahr steht: einen Impfstoff.

Nichts macht das Verlangen nach diesem Game Changer so deutlich, wie das enorme Ausmaß der globalen Anstrengungen, einen SARS-CoV-2-Impfstoff zu finden (vgl. ).

Aber wie zuversichtlich dürfen wir eigentlich sein, dass ein Impfstoff uns gleichsam aus dem SARS-CoV-2-Jammertal beamen wird? Eine sichere und wirksame Impfung wäre zweifellos der Königsweg zur Erlangung einer Herdenimmunität gegen SARS-CoV-2 (vgl.). Allerdings wird dieser Weg kein leichter sein.

Es gibt erste Hinweise darauf, dass bei Coronaviren das Phänomen infektionsverstärkender Antikörper auftreten kann. „Infektionsverstärkende Antikörper bewirken bei einer Zweitinfektion mit dem gleichen oder einem ähnlichen Subtyp des Virus einen schwereren Krankheitsverlauf (Antibody-dependent Enhancement, ADE)“ (vgl.). Eher nicht besorgniserregend, weil selten.

Sehr wohl besorgniserregend ist ein großer Klotz, den wir uns selbst in den Weg legen: unsere Impfmüdigkeit. Nach Auskunft des Robert Koch Instituts (RKI) gab es Stand 23.04.2020, 14:00 Uhr, 5.094 Covid-19-bedingte Todesfälle in Deutschland (vgl.). Mit Sicherheit wird am Ende der SARS-CoV-2-Pandemie eine deutlich höhere Zahl an Todesfällen zu beklagen sein. Diese Zahl wird aber höchstwahrscheinlich, unser aller Disziplin im Social Distancing und im Einhalten von Hygienevorschriften vorausgesetzt, weit unter 426.600 liegen, der Zahl an Todesfällen, die von Wissenschaftlern des RKI auf Basis von Literaturdaten und Berechnungen für die Influenza-Pandemie 1918/19 in Deutschland angegeben wird (vgl.).

Dass Influenzaviren auch hundert Jahre später noch eine ernsthafte Bedrohung darstellen, zeigte die Grippesaison 2017/18. Sie war in Deutschland mit 25.100 Todesfällen die schlimmste seit 30 Jahren (vgl.). Hätte der eine oder andere Todesfall verhindert werden können?

Die Wirksamkeit des für die jeweilige Grippesaison vorgesehenen Impfstoffs ist von der Treffsicherheit der WHO-Vorhersage abhängig, welche der vielen Influenzavirenstämme das Infektionsgeschehen 9 Monate später bestimmen werden (vgl.). Die Impfstoffwirksamkeit in der Saison 2017/2018 war mit 15 % tatsächlich außergewöhnlich niedrig (vgl.). Der aktuelle Wert liegt dagegen bei guten 45% (vgl.).

Während die Impfstoffwirksamkeit nur bedingt steuerbar ist, ist die Impfquote das Ergebnis individueller Entscheidungen für oder gegen die Impfung. Hier schneidet Deutschland absolut und relativ schlecht ab. Für die Influenza-Risikogruppen, die im Wesentlichen mit den Covid-19-Risikogruppen identisch sind, hatte die WHO im Jahr 2003 das Ziel einer Impfquote von 75% für Europa ausgegeben. Deutschland ist bisher mit Impfquoten von maximal 59 % (2008/2009) bis minimal 34,8 % (2016/2017) immer und weit unter dieser Zielmarke geblieben (vgl.). Der Vergleich der 2016/2017-Impfquoten von Deutschland und Südkorea muss jedem Impfstoff-Herbeisehner den Eigenanteil an der Verhinderung oder Bewältigung künftiger Krisen klarmachen: 34,8 % zu 82,7 % (vgl.)! Wie formulierte es der mittlerweile omnipräsente, aber in dieser Hinsicht leider Noch-Nicht-Influencer, der RKI-Präsident Lothar Wieler: „Mit keiner anderen Impfung lassen sich hierzulande mehr Leben retten.“ (vgl.)

Irgendwann werden die SARS-CoV-2-bedingten Einschränkungen des täglichen Lebens und der damit einhergehende Leidensdruck Vergangenheit sein. Irgendwann wird es einen SARS-CoV-2-Impfstoff geben. Und dann?

Über die Psychologie der Viren ist noch nichts bekannt. Eine faire Annahme ist, dass es keine gibt. Die bloße Verfügbarkeit eines Impfstoffs wird weder SARS-CoV-2 noch irgendein anderes Virus angsterfüllt in die Flucht schlagen. Der beste Impfstoff nützt nichts, wenn man ihn nicht nutzt. Wir im Land der Dichter und Denker sollten unser Denken nicht ausgerechnet an der Stelle dichtmachen, wo es um die Anerkennung und Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse rund um die Prävention von Infektionswellen geht. Bleiben Sie gesund!