Das Verständnis von Leben in Zeiten der Corona-Pandemie
„LEBEN“ ODER DAS VERSTÄNDNIS VON „LEBEN” IN ZEITEN DER CORONA-PANDEMIE
Als Experte für Pflegemanagement und Berufspädagogik, der zahlreiche Publikationen zu dem Thema Patientensicherheit veröffentlicht hat, gibt Prof. Dr. Michael Rosentreter Denkanstöße, wie „Leben retten“ und Lebensqualität in Zeiten der Pandemie anders betrachtet werden kann.
Noch nie zuvor erhielt man aus der Volksrepublik China eine so detaillierte Berichterstattung und es zeichnete sich früh ab, dass sich aus der regionalen Corona-Epidemie eine weltumspannende Pandemie entwickeln würde. Als der Gesundheitsminister Jens Spahn verkündete, Deutschland sei mit 80 Isolier-Intensivplätzen gut aufgestellt, hätte man daher erwarten können, dass ein entsprechender Katastrophenschutzplan existiere, zumal seit 2013 eine Risikoanalyse vorliegt (Deutscher Bundestag). Mit der folgerichtigen Begründung, die rapiden Infektionsraten zu „bremsen“, reagierten die Bundes- und Landesregierungen verhältnismäßig schnell mit der sukzessiven Einführung von Maßnahmen, die in der Gesamtheit das Bild des gegenwärtigen Krisenmanagements ergeben. Zeit sollte gewonnen werden, um die Kliniken auf das zu erwartende hohe Patientenaufkommen vorzubereiten. Zur Legitimation aller möglichen Vorschläge und Maßnahmen wurde immer wieder angeführt, dass es darum ginge, „Leben zu retten“. Das Gewicht dieses Arguments und die zur Banalität gewordene Häufigkeit, mit der dieser Appell in unzähligen Talkshows herangezogen wurden, fordert geradewegs auf, darüber zu reflektieren, welches Verständnis von Leben wir haben.
In der geprägten abendländischen Kultur stellt der Wert des individuellen Lebens ein geradezu heiliges Gut dar. Doch offenbart die Covid-19 Pandemie in verräterischer Weise ein erstaunlich reduziertes Verständnis dessen, was das Leben ausmacht. Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden.
Inzwischen sollte jedem deutlich geworden sein, dass die Pandemie erst dann bewältigt sein wird, wenn 70 bis 80 % der Bevölkerung entweder durch Infektion oder Impfung immunisiert sind. In diesem Zusammenhang äußerte sich der gesundheitspolitische Sprecher der SPD Karl Lauterbach in einer Talkrunde am 18. März 2020 dahingehend, dass es völlig unethisch sei, wie in England eine Herdenimmunität über die Durchseuchung der Bevölkerung angestrebt werde. Nun ist Herr Lauterbach Gesundheitsökonom und Arzt und zumindest als solcher sollte er wissen, dass im angelsächsischen Raum der Utilitarismus das leitende ethische Paradigma darstellt. In Abgrenzung zum kontinentalen Idealismus gilt dort als moralisch richtig, was dem aggregierten Gesamtnutzen, also der Allgemeinheit bzw. dem Gemeinwohl, am meisten dient (nach Jeremy Bentham, 1748-1832: „Das Glück der großen Zahl“). Unethisch an der britischen Politik ist in der Tat, dass es im Gegensatz zur schwedischen Vorgehensweise gar keinen Plan gegeben hat und, dass der britische Premierminister Boris Johnson, selbst von der Krankheit und intensivmedizinischen Therapie gezeichnet, dieses immer noch leugnet.
Ein Beispiel aus Deutschland verdeutlicht den Wert des individuellen Lebens im Idealismus eines Immanuel Kant und anderer namhafter Philosophen, aber aus einer praktischen Perspektive. Der Arzt Matthias Thöns hat mit seinen Äußerungen im Interview mit Peter Sawicki am 11. April 2020 (Deutschlandfunk) eine heftige Diskussion ausgelöst. Als Palliativmediziner bemängelte er, dass die vornehmlich alten und hochbetagten Patienten, die derzeit wegen ihrer Covid-19 Erkrankung auf den Intensivstationen beatmet werden, eigentlich das Anrecht auf eine palliativmedizinische Versorgung hätten, anstatt eine quälende intensivmedizinische Behandlung durchleiden zu müssen, zumal sowohl der Behandlungserfolg, als auch die Wiederherstellung ihrer Lebensqualität fraglich sind. In diesem Zusammenhang macht er sich für eine Patientenverfügung, spätestens zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme, stark. Bei aller Kritik an seiner Position steht er damit fest auf dem Fundament der Berufsordnung für Ärzte (§1).
Das Corona-Virus in seiner Bedrohlichkeit stellt nicht nur eine Herausforderung für das Gesundheitssystem dar, sondern auch die konkrete Aufforderung an jeden Einzelnen, Leben neu zu denken. Lebenszeit ist nicht gleich Lebensqualität.
Foto: © Maria Klassen.
Quellen:
Deutscher Bundestag (2013): Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode. Drucksache 17/12051. URL: https://www.bbk.bund.de/…/BT-Bericht_Risikoanalyse_im_BevSc… (15.04.2020)
Deutschlandfunk (2020): „Sehr falsche Prioritäten gesetzt und alle ethischen Prinzipien verletzt“. Palliativmediziner zu COVID-19-Behandlungen. Matthias Thöns im Gespräch mit Peter Sawicki.
URL: https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-… (15.04.2020).
(Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte- MBO-Ä 1997 – in der Fassung der Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetages 2011 in Kiel. URL: https://www.bundesaerztekammer.de/…/downlo…/MBO_08_20112.pdf (15.04.2020).