15/05/2020

Corona und das Engagement

Gesellschaftliches und privates Engagement

Prof. Dr. Ria Puhl, Studiengangsleiterin des Bachelors Soziale Arbeit schreibt über das Engagement in der Gesellschaft während der Corona-Pandemie.

Unabhängig von den verschiedenen Lockerungen in den einzelnen Bundesländern – es gibt jetzt, immerhin, für Eltern schrittweise Entlastungen, nachdem sie wochenlang ihre Kinder selbst betreut oder sich in Homeschooling geübt hatten. Schulen, Kitas, Parks und Spielplätze haben teilweise wieder geöffnet, andere Einrichtungen wie Jugendtreffs noch nicht. Von einem normalen Betrieb wird noch lange nicht die Rede sein, bis zum Beginn der Sommerferien jedenfalls nicht. Die Zeit, die vielen Kindern und Jugendlichen vorgekommen sein muss wie zu viele langweilige Sonntagnachmittage hintereinander, wie endlose Sommerferien, wenn man sich in Wirklichkeit schon lange wieder auf die Schule und die Freunde freut, ist noch nicht vorüber. Die Kinder haben keine Ferien oder nur ein bisschen Schule, nein, sie haben Stress. Jedenfalls sehr viele.

Manche Kinder, liest man, genießen allerdings das Homeschooling sogar. Sie haben zu Hause Ruhe, die technischen Voraussetzungen für den digitalen Unterricht, ein eigenes Zimmer (s. Ergebnisse einer Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels von Wido Geis-Thöne, 2020) und Eltern im Homeoffice, die, mehr oder weniger überfordert, quasi als „Privatlehrer“ fungieren können. Andere Kinder haben Eltern in nicht systemrelevanten Berufen, die größte Probleme mit der Betreuung ihrer Kleinen haben. Wobei der Druck, im Job zu funktionieren, finanzielle Engpässe und Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder der Aufgabe des eigenen Betriebs in vielen Familien zu vermehrten Spannungen und Konflikten führen kann (vgl. Liga für das Kind, 2020).

In der jetzigen Situation fehlen vielen Kindern und Jugendlichen, so fassen es Gerda Holz und Antje Richter-Kornweitz (2020) zusammen, öffentliche Strukturen, die ihnen sonst Kitas, Schulen, Hort und Kinder-/Jugendeinrichtungen bieten. Sie betreffen Ernährung, Bildung und Betreuung, Teilhabe an normalem Kinder- und Jugendalltag und an Kultur. Das gilt für alle. „Übersehen wird allerdings, dass mit der Schließung all dieser sozialen Einrichtungen in Folge der Corona-Krise auch solche Leistungen wegfallen, die dazu gedacht sind, existentielle Notlagen abzufedern und zu bewältigen.“ (a.a.O)

Das betrifft die Kinder aus sogenannten belasteten Familien, Familien also, die ihre Probleme nicht selbst lösen können, seien es gesundheitliche, finanzielle, psychische, emotionale, oder deren Erziehungskompetenz nicht ausreicht. Familien, in denen es in Corona-Zeiten noch schneller kriselt als ohnehin schon. Denn Konflikte werden in Krisen ja nicht kleiner. Wir müssen uns Kinder vorstellen, die kein ruhiges Eck haben für Hausaufgaben, sondern in einer beengten Wohnung leben, vielleicht nicht über Internet verfügen, ihre Eltern nicht fragen können oder keine Hilfen erhalten. Manche dieser Kinder sind gereizten, überforderten Erwachsenen ausgeliefert, bis hin zu Misshandlungen oft ihnen selbst oder Familienangehörigen gegenüber.

Etliche dieser Familien erfahren in normalen Zeiten Unterstützung durch Soziale Arbeit, die aber jetzt reduzierter oder wegen der Kontaktbeschränkungen überhaupt nicht mehr stattfindet. Zwar sind soziale Institutionen und Verbände, z. B. das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik oder die Deutsche Liga für das Kind, schnell aktiv geworden (einen Überblick über Stellungnahmen aus dem sozialen Bereich bietet Forum Transfer), haben auf armutsbedrohte Kinder hingewiesen und Vorschläge zur Krisenhilfe gemacht, die die Politik zur Kenntnis genommen und geprüft hat; manches ist schon umsetzt, etwa ist die Essensversorgung der Hartz IV-Kinder (aufgrund von SGBII-/XII Regelsatz und Bildung und Teilhabe BuT) nach Schließung der Kitas/Horte/Schulen (vgl. Deutscher Städtetag, 2020).

Das heißt, Politik und Verbände unternehmen viel, um die Situation für belastete Familien zu entschärfen. Auf ehrenamtlicher Ebene haben sich für die Hilfe vor Ort viele Nachbarschaftsinitiativen gebildet, die Plattformen zur Koordination von Hilfegesuchen und -angeboten nutzen (z.B. nebenan.de; Wirhelfen; Helpunity, Coronaport). Die Zivilgesellschaft funktioniert und zeigt sich von ihrer besten Seite.

Aber in Sachen Hilfe es gibt auch die Möglichkeit, im direkten Umfeld – ohne den Umweg über Plattformen zu nehmen – hinzuschauen und anzupacken; es ist nicht nur zum Vorteil der Nachbarn, sondern auch zum eigenen Vorteil, weil man Menschen kennenlernt, die man vorher nur flüchtig gegrüßt hatte. Indem man der älteren Dame aus dem Erdgeschoss ein Portal für Videokonferenzen einrichtet, so dass sie sich mit ihren Freundinnen zum virtuellen Kaffeeklatsch treffen kann. Oder indem man, wenn man jung genug ist, die Tochter der Alleinstehenden aus dem Nebenhaus auf eine Fahrradtour mitnimmt. Oder, oder, oder. Das ist das eine.

Es geht aber auch ums Aufpassen, ums Sensibler-werden: Wie lange hat man den alten Mann im Nachbarhaus schon nicht mehr gesehen, geht es ihm gut? Was ist mit der Familie im ersten Stock, wo auch sonst ganz schön viel herumgeschrien wird, ist das nicht heftiger geworden? Komisch, der Junge weint doch auch viel mehr als früher. Sich in solchen – mitunter kritischen – Fällen zu entscheiden, die freundliche Distanz und geschätzte Anonymität der urbanen Nachbarschaften zu durchbrechen und die Nachbarn persönlich anzusprechen, ob alles in Ordnung ist, das ist schwierig und ungewohnt zugleich. Der Kontakt kann helfen, natürlich, aber er ist auch riskant, wenn er, gewollt oder nicht, an den Kern einer persönlichen Überforderung rührt und womöglich zu (behördlich initiierten) Folgen führt, etwa im Fall von Kindeswohlgefährdung. Aber zum zivilgesellschaftlichen Engagement in Krisenzeiten gehört es dazu. Das ist das andere.

Ria Puhl

Quellen:

Deutsche Liga für das Kind (2020): Junge Kinder und ihre Eltern in der Corona-Zeit. Stellungnahme der Deutschen Liga für das Kind vom 20.4.2020 [http://liga-kind.de/wordpress/wp-content/uploads/2020/04/Liga-Stellungnahme-Corona_200420_final13.pdf; Zugriff: 29.4.2020]

Deutscher Städtetag (2020): Bildung und Teilhabeleistungen – Schulmittagessen vorübergehend dezentral möglich. Stand: 21.04.2020. [https://www.stgt-mv.de/static/STGT/Inhalte/Andere%20Inhalte/Publikationen/Schwerpunktthemen/Corona-Krise/Schulmittagessen.pdf; Zugriff 29.4.2020]

Forum Transfer. Innovative Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten von Corona [https://www.forum-transfer.de/herausforderungen/wichtiges-wissen-fuer-alle/stellungnahmen-von-verbaenden.html; Zugriff 29.4.2020]

Geis-Thöne, Wido (2020): IW-Report 15/2020. Haushaltsumfeld in der Krise: Ein Teil der Kinder braucht mehr Unterstützung. Ergebnisse einer Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) [https://www.iwkoeln.de/studien/iw-reports/beitrag/wido-geis-thoene-ein-teil-der-kinder-braucht-mehr-unterstuetzung.html; Zugriff: 29.4.2020]

Holz, Gerda; Richter-Kornweitz, Antje (2020): Statement aus der Armutsprävention. Arme Kinder in der Corona-Krise nicht länger übersehen! Frankfurt: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS).