Corona: Mehr Tests = mehr Fälle?
Wir wissen von mehr Corona-Neuinfektionen, weil wir mehr testen. Aber stimmt das? Prof. Dr. Astrid Loßin, Studiengangsleiterin des Bachelors Gesundheitsökonomie (B. A.) beleuchtet diese Fragestellung genauer.
Seit Mitte Juli steigen in Deutschland die vom Robert-Koch Institut (RKI) übermittelten täglichen Neuinfektionen mit SARS-COV-2 wieder an, nachdem sie vorher von rund 6.000 Anfang April 2020 auf 200-300 gesunken waren. Derzeit befinden wir uns schon wieder deutlich über der Schwelle zu einer vierstelligen Anzahl an täglich übermittelten Fällen.
Um bestmöglich zu verhindern, dass SARS-COV-2 von Reisenden aus Risikogebieten eingeschleppt wird, wurden in den letzten Wochen die Testungen auf das Virus in der Bevölkerung stark ausgeweitet. Unter anderem wurden an Grenzen, Bahnhöfen und vor allem Flughäfen Teststationen eingerichtet, an denen sich Reiserückkehrer testen lassen können. Die Testungen pro Woche liegen derzeit bei mehr als 875.000, während in der Zeit von Mitte März bis Mitte Juni nur rund 300.000 bis 400.000 Personen pro Woche getestet wurden.
Also rund 500.000 Tests pro Woche mehr als vorher und dazu rund 1.000 Fälle täglich mehr, die positiv getestet werden – Kann es da nicht sein, dass diese Zunahme an positiven Tests nur auf die Erhöhung der Anzahl an Tests zurückzuführen ist? Das würde heißen, dass die tatsächliche Zahl an SARS-COV-2-Infizierten sich gar nicht erhöht hätte, sondern durch die vermehrte Testung lediglich die Dunkelziffer besser ausgeleuchtet wird.
Vor allem die bei Reihentests von Reiserückkehrern gefundenen asymptomatischen Fälle, die sonst gar nicht entdeckt worden wären, wären ansonsten Bestandteil dieser Dunkelziffer. Diesen Zusammenhang sah auch Donald Trump, als er im Juni auf seiner Wahlkampfveranstaltung in Tulsa dazu aufrief, lieber weniger auf SARS-COV-2 zu testen, um die Zahl der ermittelten Infektionen zu senken:
„When you do testing to that extent, you are going to find more people, you’re going to find more cases. So I said to my people: ‘Slow the testing down, please.‘“
Alles Dunkelziffer? Die Antwort ist ein klares Jein. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil des Anstiegs der ermittelten Neuinfektionen durch Ausleuchtung der Dunkelziffer zu erklären ist. Höchstwahrscheinlich ist aber ein anderer Teil dieses Anstiegs durch eine tatsächliche Erhöhung der Neuinfektionen zu begründen. Wie viel dabei die Dunkelziffer ausmacht und wieviel die tatsächliche Beschleunigung des Infektionsgeschehens, lässt sich nicht genau quantifizieren, weil die Höhe der Dunkelziffer nicht bekannt ist und der Anteil der positiv Getesteten stark vom Zusammenspiel aus Verteilung des Virus in der Fläche und dem Testverhalten der Kommunen abhängt.
Es gibt allerdings einen kleinen Anhaltspunkt, wie groß der „Dunkelzifferanteil“ der Fallzahlsteigerung geschätzt werden kann, zumindest wenn ein flächendeckend (einigermaßen) einheitliches Testvorgehen deutschlandweit unterstellt werden kann. Dieser Anhaltspunkt liegt in der Positivrate der SARS-COV-2-Tests. Diese gibt an, wie viel Prozent der durchgeführten Tests auf SARS-COV-2 tatsächlich auf eine Infektion hinweisen und lag zur „Hochphase“ der Coronakrise zum Monatswechsel März/April 2020 bei 9% und liegt zum Monatswechsel Juli/August bei knapp 1 % (RKI 2020).
Unter dem Postulat, dass die Positivrate unter den 500.000 „zusätzlich“ Getesteten der ansonsten ermittelten Positivrate entspricht oder in jedem Fall nicht größer ist, ergäbe sich dann folgende vereinfachte Kalkulation: Bei rund 500.000 im Vergleich zu März/April pro Woche zusätzlich getesteten Fällen sind bei einer Positivrate von 1 % bis zu 5.000 zusätzlich entdeckte Fälle pro Woche zu erwarten, wenn gilt: Positivrate der „regulär“ Getesteten ≥ Positivrate der zusätzlich Getesteten. Das wären gerechnet auf die sieben Wochentage höchstens etwas mehr als 700 Fälle pro Tag, die als „Ausleuchtung der Dunkelziffer“ bezeichnet werden können. Die restliche Erhöhung der Infiziertenzahlen wäre dann einer tatsächlichen Fallzahlsteigerung zuzurechnen. Ausgehend von 250 Fällen Mitte Juli im Vergleich zu rund 1.700 Fällen derzeit, läge die tatsächliche Fallzahlsteigerung also bei mindestens 750 Fällen täglich.
Somit ist die Fallzahlsteigerung bei den positiv getesteten SARS-COV-2-Infizierten zwar auch, aber höchstwahrscheinlich leider nicht nur, auf eine Ausweitung der Tests und damit verbundene Aufdeckung der Dunkelziffer zurückzuführen. Einen mindestens ebenso großen Anteil an der Steigerung der Neuinfektionen haben derzeit unter den getätigten Annahmen die tatsächlichen zusätzlichen Fälle.
Quellen und weiterführende Links
- RKI 2020: Robert Koch-Institut: Erfassung d er SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland (Update vom 6.8.2020). Epid Bull 2020;32/33:31–32
- RKI 2020a: Robert Koch-Institut: Situationsbericht vom 19.8.2020
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